Ich wurde vor einigen Wochen zum Beistand von zwei Kindern eingesetzt mit dem Auftrag, die Ausübung des Besuchsrechts sicherzustellen und zu überwachen, bei Konflikten zwischen den Eltern zu vermitteln sowie organisatorische Unterstützung bei der Durchführung des Besuchsrechts, insbesodnere betreffend der Übergabe der Kinder, zu leisten. Die Beistandschaft wurde vom Gericht im Scheidungsverfahren angeordnet.
Seit rund vier Jahren läuft ein hochstrittiges Scheidungsverfahren . Es besteht ein massiver Streit über die finanziellen Nebenfolgen der Scheidung und über die Kinderzuteilung. Das Gericht hat in einem ersten Urteil die Kinder unter die Obhut der Mutter gestellt und dem Vater ein Besuchsrecht eingeräumt.
Seit rund vier Monaten verweigert der Vater nun die Rückkehr seines Sohnes zur Mutter, während die gemeinsame Tochter weiterhin bei der Mutter lebt. Vordergründig hält der KV fest, dass dies dem Wunsch des Sohnes entspreche. Der 11-jährige Sohn äussert sich auch entsprechend, wobei er offensichtlich unter enormem Einfluss des Vaters steht. Im Gegenzug verweigert die KM seither die Besuche der Tochter beim Vater, da sie befürchtet, dass dieser ihr auch das zweite Kind vorenthält.
Die KM hat ein Strafverfahren nach StGB Art. 220 eingeleitet und die Rückführung des Sohnes gefordert, das Verfahren ist pendent. Es zeichnet sich jedoch keine Rückführung ab, man will dies offenbar nicht anordnen, der KV dürfte mit einer Busse davonkommen. Auch das Scheidungsgericht hat den KV in einem Schreiben aufgefordert, den ordnungsgemässen Zustand wieder herzustellen und das Kind in die Obhut der Mutter zurückzugeben. Es wird darauf hingewiesen, dass dies im Weigerungsfall negativen Einfluss auf die gerichtlich angeordneten Erziehungsgutachten haben könnte. Der KV setzt sich über all diese Bestimmungen hinweg. Die Scheidungsanwälte finden offensichtlich auch keine Lösung.
Der Sohn befindet sich in einem enormen Loyalitätskonflikt. Er distanziert sich physisch und verbal immer mehr von seiner Mutter und seiner Schwester. Er wird dabei von seinem Vater gepusht und bestärkt und ihm werden immer wieder falsche Versprechungen hinsichtlich Wohn- und Schulort gemacht. Der KV hat verschiedentlich erwähnt, dass er alles daran setze, dass die Mutter auch noch die Tochter verliere. Es gebe nur eine Lösung, wenn sie ihm bei den finanziellen Nebenfolgen der Scheidung entgegen komme. Das Kind wird offensichtlich als Druckmittel missbraucht.
Unter diesen Umständen ist mein Auftrag, das Besuchsrecht sicherzustellen und zu überwachen, nicht durchführbar. Die KM bzw. dessen Anwältin wie auch das Gericht sind der Ansicht, dass ich als Beistand der Kinder die Möglichkeit habe, die Rückführung unter Mithilfe der Polizei durchzusetzen und zu vollziehen. Ich bin da klar anderer Ansicht. Für mich stellen sich nun folgende Fragen:
1. Welche Möglichkeiten bieten sich für mich als Beistand in vorliegendem Fall?
2. Wie ist vorzugehen, um das gerichtlich definierte Aufenthaltsbestimmungsrecht durchzusetzen?
3. Kann die KESB trotz laufendem Scheidungsverfahren Anordnungen zum Schutz des Kindes treffen? Ich denke da z.B. an eine Timeout-Platzierung, damit das Kind zur Ruhe kommt und anschliessend "geordnet" wieder zur Mutter zurückkehren kann.
4. Ist nach einer allfälligen Rückführung des Kindes die Weiterführung des Besuchsrechts noch zumutbar? Die Gefahr, dass der KV die Kinder erneut nicht zurückkehren lässt, ist als hoch einzustufen. Der KV lässt sich von Anordnungen und Verfügungen nicht beeindrucken und setzt seinen Willen ohne Rücksicht auf Verluste durch.
Gespannt sehe ich Ihrer Rückmeldung entgegen. Danke für Ihre Unterstützung.
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrter Herr Henseler
Gerne verweise ich Sie auf den Beitrag von Kurt Affolter-Fringeli, Die Besuchsrechtsbeistandschaft oder der Glaube an eine dea ex machina, in: ZKE 3/2015, abrufbar auf < http://www.affolter-lexproject.ch/Downloads/Besuchsrechtsbeistandschaft.pdf>. Ihre Fragen lassen sich nach Lektüre des Beitrages nicht nur umfassend beantworten, Sie erhalten auch Hinweise, wie Sie in der Situation vorgehen können.
1. Welche Möglichkeiten bieten sich für mich als Beistand in vorliegendem Fall?
Sie haben als Beistand die Aufgabe, die Ausübung des Besuchsrechts sicherzustellen und zu überwachen, bei Konflikten zwischen den Eltern zu vermitteln sowie organisatorische Unterstützung bei der Durchführung des Besuchsrechts, insbesondere betreffend der Übergabe der Kinder, zu leisten.
Ihre Aufgaben erledigen Sie mit folgenden professionellen Hilfsangeboten: Unterstützung mit Rat und Tat, Beratung, Aufklärung, Vermittlung, Überwachung, Beobachtung Regelung von Modalitäten und dgl. (Affolter, Ziffer 2.1.).
Wenn diese professionellen Hilfsangebote nicht zum Erfolg führen, können Sie die Aufgabe nicht erledigen. Untaugliche Massnahmen sind durch andere geeignete Massnahme zu ersetzen oder aufzuheben (Affolter Ziffer 3.3.; vgl. KOKES-Praxisanleitung Kindesschutz, N 15.54).
Da es sich um ein laufende Scheidungsverfahren handelt, ist das Gericht nach Art. 315a und 315b ZGB für die Regelung des persönlichen Verkehrs sowie für die Anordnung und Abänderung von Kindesschutzmassnahmen zuständig (vgl. KOKES-Praxisanleitung Kindesschutz, N 6.35 ff. und die Übersicht in N 6.50).
2. Wie ist vorzugehen, um das gerichtlich definierte Aufenthaltsbestimmungsrecht durchzusetzen?
Die Vollstreckung des Besuchsrechts kann nur durch das Gericht, das hier für die Dauer des Scheidungsverfahrens für den Kindesschutz zuständig ist, angeordnet werden. Die Strafbehörde führt aktuell ein Verfahren wegen Entziehen von Minderjährigen. Sie sind weder Vollstreckungsgehilfe noch haben Sie, insbesondere mangels Aufenthaltsbestimmungsrecht, Verfügungsmacht darüber, den Jungen der Mutter polizeilich zuführen zu lassen. Sie sehen das völlig richtig, dass Sie hier nicht die zuständige Person sind (vgl. vgl. KOKES-Praxisanleitung Kindesschutz, N 15.47). Ihr Repertoire erschöpft sich in den oben beschriebenen professionellen Hilfsangeboten. Deutlich dazu Affolter: „Mit diesen Feststellungen soll auch einmal mehr geklärt sein, dass die Vollstreckung des persönlichen Verkehrs nicht über einen Beistand führt und jene Betroffenen, die vom Beistand dies erwarten oder verlangen und dessen Eignung an seiner Vollstreckungskapazität messen, falsch liegen (Affolter, Ziffer 1.1.,c.).
3. Kann die KESB trotz laufendem Scheidungsverfahren Anordnungen zum Schutz des Kindes treffen? Ich denke da z.B. an eine Timeout-Platzierung, damit das Kind zur Ruhe kommt und anschliessend "geordnet" wieder zur Mutter zurückkehren kann.
Das ist möglich. Allerdings ist m.E. das Gericht für die Anordnung zuständig. Wenn Sie einen solchen Antrag an die KESB stellen, wird sie ihre Zuständigkeit prüfen und die Sache ggf. an das Gericht weiterleiten. In der Praxis kommt es auch vor, dass sich Gericht und KESB über das Vorgehen absprechen (vgl. KOKES-Praxisanleitung Kindesschutz, N 6.38). Eine solche Platzierung muss selbstredend verhältnismässig sein.
4. Ist nach einer allfälligen Rückführung des Kindes die Weiterführung des Besuchsrechts noch zumutbar? Die Gefahr, dass der KV die Kinder erneut nicht zurückkehren lässt, ist als hoch einzustufen. Der KV lässt sich von Anordnungen und Verfügungen nicht beeindrucken und setzt seinen Willen ohne Rücksicht auf Verluste durch.
Das Gericht hat zu überprüfen, ob die bisherige Regelung so bestehen bleiben kann, ob die Anordnung abzuändern oder gar aufzuheben ist. Das kann nur anhand detaillierter Fallkentnisse beurteilt werden. Es ist die Frage zu klären, ob die Beistandschaft die durch den persönlichen Kontakt verursachte Kindeswohlgefährdung zu mildern oder zu beheben vermag. Wenn mit der Beistandschaft keine Verbesserung erreicht werden kann, ist sie aufzuheben.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich.
Luzern, 11.8.2020
Karin Anderer