Guten Tag
Schon im Voraus vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen!
Ausgangslage:
- Als privatrechtlich organisiertes Unternehmen (Genossenschaft) mit Sitz im Kanton Bern führen wir berufliche Eingliederungsmassnahmen im Auftrag von IV-Stellen (und anderer Kostenträger) durch. Es ist keine ärztlich geleitete Einrichtung.
- Im Rahmen der Durchführung einer weit fortgeschrittenen IV-Ausbildungsmassnahme haben wir eine lernende Person auf ihre wiederkehrenden Verletzungen angesprochen - und leider erst im Laufe der Zeit erfahren, dass sie häusliche Gewalt erlebt. Das Paar hat ein zweijähriges Kind und kürzlich wurde das zweite Kind geboren. In Zusammenarbeit mit dem behandelnden Psychiater der lernenden Person versuchten wir leider erfolglos, die dringend nötige Unterstützung zu organisieren. Die lernende Person will sich nicht trennen und befürchtet, dass ihnen bei einer Intervention die Kinder weggenommen werden.
- Weil sich die Situation gegen Ausbildungsende (Sommer 2023) nicht verbesserte, sind wir nach reiflicher Überlegung zum Schluss gekommen, eine Meldung wegen Verdacht auf Kindswohlgefährdung einzureichen. Die KESB hat uns bei der anonymen Anfrage diesen Schritt nahegelegt. Die KESB konnte uns aber nicht abschliessend sagen, ob wir als Institution dazu verpflichtet sind. Auf der Homepage der KESB im Kanton Bern ist u.a. zu lesen: «Jede Person kann eine Meldung erstatten, wenn sie die Gefährdung eines Kindes vermutet. Behörden, Ämter, Gerichte, Schulen und alle subventionierten Institutionen sind sogar zu einer Meldung verpflichtet.»
Fragen:
- Ist es richtig, dass wir berechtigt sind, eine Gefährdungsmeldung zu machen (gestützt auf Art. 443 Abs. 1 ZGB)?
- Haben wir als Organisation eine gesetzliche Meldepflicht (amtliche Tätigkeit gemäss Art. 443 Abs. 2 ZGB)?
- Ist es richtig, dass wir nicht dem Berufsgeheimnis (nach Art. 321 StGB) unterstehen?
- Ist es richtig, dass keine Entbindung von der beruflichen Schweigepflicht erforderlich ist?
- Was ist aus rechtlicher Sicht zu beachten betreffend der Vorabinformation an die lernende Person? Wir richten uns grundsätzlich am Transparenzprinzip aus, befürchten jedoch, dass sich dies negativ auf die Gesamtsituation auswirken könnte (z.B. in der Phase der Meldung bis zum KESB-Erstkontakt)?
- Was ist aus rechtlicher Sicht zu beachten betreffend der Interessenabwägung bei einer anonymen Eingabe (Akteneinsichtsrecht der betroffenen Person vs. Persönlichkeitsrecht der meldenden Person)? Wir stehen zu unserem Vorgehen, können aber die Reaktion (namentlich der Partner:in der lernenden Person) nicht abschätzen.
- Ist davon auszugehen, dass wir im Rahmen der Mitwirkungspflicht (gemäss Art. 448 Abs. 1 ZGB) bei der Abklärung angehört / befragt werden?
Mit besten Grüssen.
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Grüezi
Dankeschön für die Anfrage.
Bezüglich der Meldungen im Kindesschutz und Erwachsenenschutz bestehen unterschiedliche gesetzliche Grundlagen und inhaltliche Unterschiede.
Art. 314c bis 314e ZGB regeln die Melderechte, Meldepflichten und die Mitwirkung und Amtshilfe im Kindesschutz. Für den Erwachsenschutz regelt Art. 443 ZGB die Meldepflicht und Art. 448 die Mitwirkungspflichten und Amtshilfe. Und für beide Bereiche regelt Art. 453 ZGB die Zusammenarbeitspflicht.
Ich empfehle Ihnen, nach dem Merkblatt der KOKES vom März 2019 «Melderechte und Meldepflichten an die KESB nach Art. 314c, 314d, 443 sowie 453 ZGB» (vgl. https://www.kokes.ch ->Dokumentation ->/Empfehlungen ->Melderechte und Meldepflichten an die KESB Januar/März 2019) vorzugehen und den Ablauf von Gefährdungsmeldungen im internen Datenschutzreglement abzubilden.
Sie wollen eine Kindeswohlgefährdung melden. Ob die Institution dem Berufsgeheimnis untersteht oder amtlich tätig ist, kann ich nicht abschliessend beurteilen. Ich gebe Ihnen eine allgemeine Auslegeordnung für den Kindesschutz, die weitgehend Ihre Fragen beantwortet.
Unter dem Berufsgeheimnis nach Art. 321 StGB stehen Geistliche, Rechtsanwälte, Verteidiger, Notare, Patentanwälte, nach Obligationenrecht zur Verschwiegenheit verpflichtete Revisoren, Ärzte, Zahnärzte, Chiropraktoren, Apotheker, Hebammen, Psychologen, Pflegefachpersonen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Ernährungsberater, Optometristen, Osteopathen sowie ihre Hilfspersonen.
Im KOKES-Merkblatt, S.4, ist Folgendes zu Personen in amtlicher Tätigkeit ausgeführt: «Die amtliche Tätigkeit ist dabei in einem weiten Sinn zu verstehen: Massgeblich ist, dass die Person eine öffentlich-rechtliche Aufgabe erfüllt. Ein Anstellungsverhältnis mit dem Staat ist nicht erforderlich, auch eine Unterstellung unter das strafrechtliche Amtsgeheimnis ist nicht erforderlich. Eine Privatperson, die eine öffentlich-rechtliche Aufgabe erfüllt, fällt auch unter die amtliche Tätigkeit. Auch Mitarbeitende von privaten Organisationen, die vom Staat massgeblich subventioniert werden und eine staatliche Steuerungsmöglichkeit besteht (z.B. durch Festlegen von Rahmenbedingungen zur Aufgabenerfüllung), fallen unter die amtliche Tätigkeit.» Da im Auftrag der IV berufliche Eingliederungsmassnahmen angeboten werden, spricht m.E. einiges für die amtliche Tätigkeit.
Allenfalls können Sie die für den Datenschutz zuständigen Stelle konsultieren und mit ihr klären, ob die Institution unter das Berufsgeheimnis fällt oder amtlich tätig ist (https://www.dsa.be.ch/de/start.html).
Melderecht im Kindesschutz
Nach Art. 314c Abs. 1 ZGB kann jede Person der Kindesschutzbehörde Meldung erstatten, wenn die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes gefährdet erscheint.
Liegt eine Meldung im Interesse des Kindes, so sind, nach Art. 314c Abs. 2 ZGB, auch Personen meldeberechtigt, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen. Diese Bestimmung gilt nicht für die nach dem Strafgesetzbuch an das Berufsgeheimnis gebundenen Hilfspersonen. Eine Meldung im Interesse des Kindes bedeutet, dass «(…), dass bei der Abwägung, ob eine Meldung gemacht werden soll, die Interessen des Kindes in den Vordergrund rücken. Dabei geht es nicht nur um die Interessen des direkt betroffenen Kindes, sondern auch um die Interessen anderer Kinder, die mit der gefährdenden Person in Kontakt stehen» (KOKES Merkblatt, S. 9).
Eine Entbindung vom Berufsgeheimnis ist nicht nötig. Der Kindesschutz wird gegenüber dem Berufsgeheimnis höher gewichtet (KOKES Merkblatt, S. 9).
Zusammenfassung
«Meldeberechtigt sind insbesondere folgende Personengruppen:
- Privatpersonen
- Berufsgeheimnis-Träger/innen
- Fachpersonen, die ehrenamtlich mit Kindern Kontakt haben
- (…)»
(KOKES Merkblatt, S. 8)
Meldepflicht im Kindesschutz
Die Meldepflicht ist in Art. 314d ZGB geregelt.
Art. 314d
1 Folgende Personen, soweit sie nicht dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, sind zur Meldung verpflichtet, wenn konkrete Hinweise dafür bestehen, dass die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes gefährdet ist und sie der Gefährdung nicht im Rahmen ihrer Tätigkeit Abhilfe schaffen können:
1. Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Pflege, Betreuung, Erziehung, Bildung, Sozialberatung, Religion und Sport, die beruflich regelmässig Kontakt zu Kindern haben;
2. wer in amtlicher Tätigkeit von einem solchen Fall erfährt.
2 Die Meldepflicht erfüllt auch, wer die Meldung an die vorgesetzte Person richtet.
3 Die Kantone können weitere Meldepflichten vorsehen.
Im Kanton Bern gibt es weiteren Meldepflichten, die den Schulbereich (Volksschulgesetz) und den Sozialhilfebereich (Sozialhilfegesetz) betreffen. Weitere Meldepflichten sind mit nicht bekannt (vgl. Anhang 2: Kantonale Meldevorschriften Stand März 2019).
Wenn bei Ihnen Minderjährige bei beruflichen Eingliederungsmassnahmen teilnehmen, und Ihre Organisation weder amtlicher tätig ist, noch einem Berufsgeheimnis untersteht, sind Sie nach Art. 314d Abs. 1 Ziff. 1 meldepflichtig. Wenn es sich in Ihrer Organisation aber um eine amtliche Tätigkeit handelt, sind Sie im Kindes- und Erwachsenschutz meldepflichtig, wenn Sie der Gefährdung nicht im Rahmen ihrer Tätigkeit Abhilfe schaffen können, unabhängig davon, ob sie mit Minderjährigen oder erwachsenen Personen arbeiten, da wird kein Unterschied gemacht.
Bei Personen in amtlicher Tätigkeit wird die Meldepflicht höher gewichtet als das Amtsgeheimnis. Eine Entbindung vom Amtsgeheimnis ist nicht nötig (KOKES Merkblatt, S. 5)
Zusammenfassung
- Im Kindesschutz sind neben Personen in amtlicher Tätigkeit auch Fachpersonen mit beruflichem Kontakt zu Kindern meldepflichtig.
- Berufsgeheimnis-Träger/innen haben im Kindesschutz ein Melderecht;
- Im Kindesschutz ist explizit vorgesehen, dass eine Meldung auch an die vorgesetzte Person erfolgen kann
(KOKES Merkblatt, S. 2)
Mitwirkung und Amtshilfe im Kindesschutz
Nach Art. 314e ZGB sind die am Verfahren beteiligten Personen und Dritte zur Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts verpflichtet. Personen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, sind zur Mitwirkung berechtigt, ohne sich vorgängig vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen. Das gilt aber nicht für die nach dem Strafgesetzbuch an das Berufsgeheimnis gebundenen Hilfspersonen.
Personen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, sind nach Art. 314e Abs. 3 ZGB zur Mitwirkung verpflichtet, wenn die geheimnisberechtigte Person sie dazu ermächtigt hat oder die vorgesetzte Behörde oder die Aufsichtsbehörde sie auf Gesuch der Kindesschutzbehörde vom Berufsgeheimnis entbunden hat. Artikel 13 des Anwaltsgesetzes vom 23. Juni 2000 bleibt vorbehalten.
Die KESB muss die Gefährdungsmeldung entgegennehmen und bearbeiten. Dazu kann Sie bei Ihnen weitere Auskünfte einholen. Denkbar ist auch, dass sie im Lauf des Verfahrens auf Sie nochmals zukommen wird. Sie sind zur Mitwirkung verpflichtet, ausser wenn Sie dem Berufsgeheimnis unterstehen; in diesem Fall sind sie berechtigt. Ermächtigt Sie aber die betroffene Person oder die vorgesetzte Behörde oder die Aufsichtsbehörde, sind Sie auch als Berufsgeheimnisträger mitwirkungspflichtig.
Zusammenarbeitspflicht bei ernsthafter Gefahr einer schweren Schädigung
Nach Art. 453 ZGB besteht bei ernsthafter Gefahr einer schweren Schädigung ein Melderecht. Das gilt für hilfsbedürftige Kinder und Erwachsene gleichermassen. Die involvierten Stellen arbeiten mit der KESB und der Polizei zusammen. Personen, die dem Amts- oder Berufsgeheimnis unterstehen, sind in einem solchen Fall berechtigt, der Erwachsenenschutzbehörde Mitteilung zu machen; eine Entbindung vom Amts- oder Berufsgeheimnis ist nicht nötig.
Zu Ihren 2 folgenden Fragen:
- Was ist aus rechtlicher Sicht zu beachten betreffend der Vorabinformation an die lernende Person? Wir richten uns grundsätzlich am Transparenzprinzip aus, befürchten jedoch, dass sich dies negativ auf die Gesamtsituation auswirken könnte (z.B. in der Phase der Meldung bis zum KESB-Erstkontakt)?
Ob Sie die Meldung von Beginn an transparent machen, müssen Sie anhand methodischer Aspekte entscheiden. Es gibt dazu keine rechtlichen Vorgaben. Es kann Gründe geben, dass Sie zunächst nicht darüber informieren, das Vertrauensverhältnis zwischen Ihnen und der Klientschaft steht auf dem Spiel. Die Klientschaft wird in jedem Fall von der Meldung erfahren. Ist Ihrer Ansicht nach eine Angelegenheit dringlich oder sehr dringlich, muss die KESB sofort oder sehr rasch reagieren (Art. 445 Abs. 2 ZGB), darauf müssen Sie in der Meldung hinweisen.
- Was ist aus rechtlicher Sicht zu beachten betreffend der Interessenabwägung bei einer anonymen Eingabe (Akteneinsichtsrecht der betroffenen Person vs. Persönlichkeitsrecht der meldenden Person)? Wir stehen zu unserem Vorgehen, können aber die Reaktion (namentlich der Partner:in der lernenden Person) nicht abschätzen.
Anonyme Meldungen von Fachpersonen sind tendenziell abzulehnen. Ohnehin kann, auch wenn die Meldung anonym erfolgt, regelmässig Rückschluss auf die meldende Person oder Stelle genommen werden. Befürchten Sie aber ernsthaft Repressalien, können Sie bei der KESB die Anonymität verlangen, oder dass zumindest gewisse, für die Meldung nicht relevante Daten, wie Handy-Nummer usw. geschwärzt werden. Persönlichkeitsbezogene Daten der meldenden Person haben aber in aller Regel in der Gefährdungsmeldung nicht verloren; achten Sie darauf.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 7. September 2023
Karin Anderer