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Anordnung einer Beistandschaft bei Bezug von Sozialhilfe

Veröffentlicht:
02.11.2023
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Guten Tag

Die Geschäftsleitung der KESB Kanton Bern hat ein Merkblatt erstellt und darin Kriterien definiert, unter welchen Umständen die Errichtung einer Beistandschaft bei Sozialhilfebeziehenden möglich ist. Die Kriterien sind wie folgt: 

• Gesetzliche Vertretung bei fehlender Urteilsfähigkeit ist in dringenden und/oder zentralen Angelegenheiten
notwendig.
• Schwere psychische Erkrankungen mit eingeschränkter Urteilsfähigkeit.
• Einschränkung der Handlungsfähigkeit zum Schutz der betroffenen Person ist erforderlich.
• Fehlende Kooperation infolge Schwächezustand.
• Die Person mit einem Schwächezustand und Schutzbedarf ist nicht in der Lage, die Handlungen
des Sozialarbeiters/der Sozialarbeiterin im Rahmen der sozialhilferechtlichen Unterstützung ansatzweise
zu überprüfen oder dagegen einzuschreiten.
• Ev. bei zahlreichen Ein- und Austritten aus Institutionen mit und ohne Fürsorgerische Unterbringung.

Zuvor wird im Merkblatt Folgendes festgehalten:

"Die Anordnung einer Erwachsenenschutzmassnahme ist nur zulässig, wenn die freiwillige Unterstützung
durch Dritte nicht ausreicht oder von vornherein als ungenügend erscheint. Dies ist insbesondere auch bei
Personen mit Sozialhilfeanspruch zu klären.
Im Rahmen der Sozialhilfegesetzgebung sind die Sozialdienste verpflichtet, die Beratung und Betreuung
hilfesuchender Personen zu gewährleisten. Dies umfasst Massnahmen in den Bereichen finanzielle Existenzsicherung,
persönliche Autonomie, berufliche und soziale Integration und Lebensbedingungen (Art. 2 SHG). Zu den Aufgaben gehören u.a. die präventive Beratung im Bereich individuelle Sozialhilfe und Kindesschutz, die Festlegung und Vereinbarung von individuellen Zielen und die Beratung und Betreuung (Art.
19 Abs. 1 SHG).
Somit geht der Auftrag der Sozialhilfe weit über die Gewährleistung der finanziellen Existenzsicherung hinaus.
Trotzdem gibt es Situationen, in denen die Mittel der Sozialhilfe den Schutzbedarf betroffener Personen
nicht abdecken können."

In Art. 19 Abs. 1 SHG (Kanton bern) steht geschrieben, dass die Sozialdienste die SOZIALHILFE im Einzelfall zu vollziehen haben und dass u.a. die diesbezügliche Beratung und Betreuung eine Aufgabe der Sozialdienste ist. Die Geschäftsleitung KESB Bern interpretiert diesen Artikel nun aber offenbar so, dass per se die Beratung und Betreuung hilfesuchender Personen durch die Sozialdienste im Rahmen der Sozialhilfe zu gewährleisten ist.

Daraus resultiert, dass kooperativen hilfesuchenden Personen, welche z.B. auf eine intensive persönliche Betreuung angewiesen sind, die Errichtung einer Beistandschaft verweigert wird und die Sozialdienste angewiesen werden, diese Hilfestellung im Rahmen der Dossierführung Sozialhilfe zu erledigen. Aus unserer Sicht gibt es jedoch immer wieder Situationen, in welchen diese persönliche Betreuung bei Weitem den Auftrag der Sozialhilfe übersteigt. 

Hier zwei Beispiele:

1) Ein Klient ist in der Körperpflege und Wundversorgung seit über 3 Jahren auf die Hilfe der Spitex angewiesen. Dem Klient ist es nicht möglich, sich selbständig fortzubewegen. Die Prüfung einer IV-Rente ist laufend. In sämtlichen administrativen Angelegenheiten ist er auf die Hilfe einer Drittperson angewiesen. Da er seine Wohnung verloren hat, hält er sich vorübergehend in einem Hotel auf. Es ist ihm aber nicht möglich, selbständig eine neue Wohnung zu finden, da er für die Wohnungsbesichtigung sowie die Wohnungsbewerbung auf die Hilfe von Dritten angewiesen ist. Im persönlichen Umfeld kann ihm niemand diese Unterstützung anbieten.

2) Die psychische Gesundheit einer Klientin ist sehr eingeschränkt. Sie leidet zudem an einer Suchtproblematik. Es gelingt ihr nicht, ihre administrativen und persönlichen Angelegenheiten selbständig zu erledigen. Dort wo möglich, wurden Direktzahlungen durch die Sozialhilfe installiert. Trotzdem benötigt die Klientin in vielen Lebensbereichen zusätzliche persönliche Hilfe. Eine psychiatrische Spitex wurde installiert, welche diese Hilfe jedoch nicht abdecken kann. Zudem kommt es regelmässig zu Klinikeintritten.

In beiden Fällen haben die betroffenen Personen aufgrund ihres Schwächezustandes die Errichtung einer Beistandschaft gewünscht. In beiden Fällen wurde dies aufgrund der obigen Kriterien durch die KESB abgelehnt.

Es würde uns sehr interessieren, wie Sie diese Situation sehen und ob es aus Ihrer Sicht zulässig ist, diesen (oder ähnlichen) hilfesuchenden Personen die Errichtung einer Beistandschaft zu verweigern. 

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Grüezi

Es steht mir nicht zu, das Merkblatt der Geschäftsleitung der KESB Kanton Bern zu beurteilen und kommentieren. Folgende Angaben zur Schnittstelle «persönliche Hilfe nach SHG» und «Erwachsenenschutzmassnahm» kann ich Ihnen aber geben.

Art. 12 der Bundesverfassung verleiht einer Person, die in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, einen Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Diese «Hilfe und Betreuung» bildet die verfassungsmässige Grundlage für die persönliche Hilfe nach SHG und für Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen.

Fachpersonen der Sozialhilfe und Beistandspersonen verfügen über Beratungskompetenzen und verstehen es gleichermassen, Personen für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Oft gelingt es.

Art. 19 des Gesetzes über die öffentliche Sozialhilfe des Kantons Bern (Sozialhilfegesetz, SHG) vom 11.6.2001, BSG 860.1, in der Fassung vom 1.1.2022 regelt die Aufgaben der Sozialdienste in allgemeiner Form. Nach Art. 23 SHG hat jede bedürftige Person Anspruch auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe. Die persönliche und die wirtschaftliche Hilfe werden, nach Art. 27 SHG, auf der Basis einer individuellen Zielvereinbarung gewährt. Und nach Art. 29 SHG wird die persönliche Hilfe in Form von Beratung, Betreuung, Vermittlung und Information gewährt.

Die persönliche Hilfe ist eine auf die individuelle Lebenslage zugeschnittene Beratung und Betreuung. Die Angebote sind nicht beschränkt, auch eine intensive Beratung und Betreuung ist möglich.

In den SKOS-RL B. wird Folgendes zur persönlichen Hilfe ausgeführt:

«Persönliche Hilfe zielt darauf ab, Menschen in belastenden Lebenslagen durch individualisierte Massnahmen zu stabilisieren und zu stärken. Anspruch auf persönliche Hilfe haben Personen, die eine belastende Lebenslage nicht selbstständig zu bewältigen vermögen. Persönliche Hilfe wird im Einvernehmen mit der hilfesuchenden Person gewährt und ist an kein bestimmtes Verfahren gebunden. Ein Sozialhilfeorgan bietet sie von sich aus an, wenn ein Bedarf erkennbar ist. Persönliche Hilfe umfasst eine auf die individuelle Lebenslage zugeschnittene Beratung und Begleitung. Persönliche Hilfe kann in der Vermittlung von spezifischen Angeboten bestehen oder von den Sozialhilfeorganen selber erbracht werden.»

Nach Art. 389 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB ordnet die Erwachsenenschutzbehörde eine Massnahme an, wenn die Unterstützung der hilfsbedürftigen Person durch die Familie, andere nahestehende Personen oder private oder öffentliche Dienste nicht ausreicht oder von vornherein als ungenügend erscheint.

Die Unterstützung öffentlicher Dienste, wie diejenige der persönlichen Hilfe nach SHG gehen einer Erwachsenschutzmassnahme somit vor. Die Unterstützung muss «ausreichend» sein, d.h. die Person kann und will sich darauf einlassen bzw. kann zur Zusammenarbeit gewonnen werden und der öffentliche Dienst ist auch in der Lage, die notwendige Unterstützung zu bieten. In der Lage ist ein Dienst, wenn er genügend und fachlich qualifiziertes Personal hat. Eine ungenügende Personaldotation darf aber nicht dazu führen, dass eine Erwachsenenschutzmassnahmen zu erreichten ist, wenn die Unterstützung im Rahmen der persönlichen Sozialhilfe ausreichend ist.

Nach Art. 390 ZGB ist eine Erwachsenenschutzmassnahme subsidiär zu vorgelagerten Angeboten:

Die Erwachsenenschutzbehörde errichtet eine Beistandschaft, wenn eine volljährige Person:

1. wegen einer geistigen Behinderung, einer psychischen Störung oder eines ähnlichen in der Person liegenden Schwächezustands ihre Angelegenheiten nur teilweise oder gar nicht besorgen kann;

2. wegen vorübergehender Urteilsunfähigkeit oder Abwesenheit in Angelegenheiten, die erledigt werden müssen, weder selber handeln kann noch eine zur Stellvertretung berechtigte Person bezeichnet hat.

Die betroffene Person muss also in der Lage und gewillt sein, mit der Sozialhilfestelle freiwillig zusammenzuarbeiten. Eine gewisse Absprachefähigkeit ist unabdingbar.

Ich kann Ihre Frage, wie ich «diese Situation sehe» und ob es zulässig ist, diesen (oder ähnlichen) hilfesuchenden Personen die Errichtung einer Beistandschaft zu verweigern nicht schlüssig beantworten, da mir detaillierte Sachverhaltskenntnisse fehlen. Meine Überlegungen:

Es stellen sich an der Schnittstelle folgende Fragen:

  • Welche Unterstützung in Form von Beratung, Betreuung, Vermittlung und Information kann der Sozialdienst im konkreten Fall bieten?
  • Warum reichen die Angebote des Sozialdienstes nicht aus?
  • Wie steht es mit der Absprachefähigkeit?
  • Was kann eine Beistandsperson anbieten und sind diese Angebote erfolgsversprechender?

Diese Fragen sind im Antrag an die KESB bereits zu beantworten, ihr ist aufzuzeigen, warum die persönliche Hilfe nach SHG die Person zu wenig stabilisieren und stärken vermag.

Im Fallbeispiel 1 geht es vorab um die Unterstützung bei der Wohnungssuche. Die betroffene Person muss gezielt unterstützt werden, z.B. beim Aufsetzen einer Musterbewerbung oder der Vermittlung von Links oder Wohnungsinseraten. Für die Besichtigung ist ggf. eine Begleitperson organisieren. Weshalb braucht es dazu eine Beistandschaft, wieso reicht Ihr Angebot nicht aus? Diese Frage dürfte sich z.B. die KESB gestellt haben, zumal die Wohnungssuche ein notorisches Beratungsthema auf Sozialdiensten ist.

Im Fallbeispiel 2 macht der Sozialdienst die Administration. Die Klientin benötigt in vielen Lebensbereichen zusätzliche persönliche Hilfe, die eine psychiatrische Spitex nicht abdecken kann. Es kommt regelmässig zu Klinikeintritten. Welche Unterstützung ist erforderlich, kann das ein Beistandsperson überhaupt bieten? Wie kann die Beistandsperson Klinikeintritte verhindern oder dezimieren? Wenn es um eine intensivere Alltagsbegleitung und Betreuung geht, dann hilft die Beistandschaft nicht weiter. Die Beistandsperson kann nur versuchen, eine stärkere Unterstützung zu organisieren oder die Klientin zu Alternativen wie betreutes Wohnen motivieren. Die KESB könnte z.B. davon ausgegangen sein, dass das Angebote sind, die auch der Sozialdienst leisten könnten. Wohnkompetenzen sind Beratungsthemen auf Sozialdiensten.

Die betroffene Person kann einen ablehnenden Entscheid der KESB selbstverständlich anfechten (Art. 450 ZGB).

Tauchen regelmässig Fragen zu dieser Schnittstelle auf, empfehle ich Ihnen, mit der KESB und der Berufsbeistandschaft in Ihrem Einzugsgebiet einen Fachaustausch anzustreben.

Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.

Luzern, 6. November 2023

Karin Anderer