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Schlüsselsituationen erfassen, ungeahntes Potenzial entdecken

April 2016 / Martin Heiniger, Christina Baumann, Regine Strub (Text)

In einer Datenbank können Fachkräfte der Sozialen Arbeit Schlüsselsituationen aus ihrem Berufsalltag dokumentieren und mit anderen Fachpersonen teilen. Damit soll die Arbeit erleichtert und die Qualität verbessert werden. "Schluss mit verschlüsselten Situationen – schliessen wir uns online kurz zum Diskurs."

Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Enzyklopädie zu den Schlüsselsituationen Ihres beruflichen Alltags in der Sozialen Arbeit. Ein Nachschlagewerk und Diskussionsforum, das Ihnen zu einer Arbeitssituation die neuesten Forschungsergebnisse liefert, den gesamten Wissensstoff zu einer Sachlage aufführt und diverse Erfahrungsberichte von Fachkräften aus der Praxis zur Verfügung stellt. So hätten Sie nach der Lektüre sowohl eine Analyse zu Ihrer Anfrage, als auch die Möglichkeit mit Fachpersonen zu diskutieren. Ein solches Lexikon könnte den professionellen Alltag in der Sozialen Arbeit vereinfachen und das professionelle Handeln wirksam verändern. Davon jedenfalls gehen die Autoren des Buches "Schlüsselsituationen in der Sozialen Arbeit" aus, welches von Eva Tov, Regula Kunz und Adi Stämpfli geschrieben wurde. Im Juni 2015 gründeten die Buchautoren den Verein "Netzwerk Schlüsselsituation" und entwickelten eine Plattform, die seit Februar 2016 unter www.schluesselsituationen.ch online ist.  

Der passende Schlüssel zu einer Situation

Das Online-Portal will Fachleuten in der Sozialen Arbeit helfen, durch Recherche und Reflexion das eigene Wissen zu Schlüsselsituationen zu erweitern, mit dem Ziel, Handlungsalternativen zu entwickeln. Schlüsselsituationen sind Situationen, die Gemeinsamkeiten von ähnlichen und wiederkehrenden Situationen in sich tragen und generelle Merkmale aufweisen, die für die weitere Arbeit handlungsleitend werden können. Eine Schlüsselsituation schildert also das Spezifische einer Situation in einem bestimmten Kontext. Um eine Schlüsselsituation zu beschreiben, wurde ein Modell entwickelt, das in acht Reflexionsschritten die Benutzer anleitet, eine Situation zu erfassen. 

Das Vorgehen ist genau strukturiert, um die sonst kaum fassbare Komplexität der Situation zu reduzieren. Der Fokus liegt sowohl auf der Problemlage der Klienten, berücksichtigt den institutionellen Kontext und schliesst die biografische Erfahrung der Fachkräfte mit ein. Solche typischen Eigenschaften sollen reflektiert, diskutiert und analysiert werden, um die fachliche Vorgehensweise auf fundierten Grundlagen zu stützen. Denn häufig ist es so, dass erfahrene Fachkräfte für sich und in ihrer Situationen Handlungen vornehmen, die zwar funktionieren, aber den Bezug zu theoretischen und wissenschaftlichen Grundlagen verloren haben. Es wird also etwas getan, das zwar funktioniert, aber die Fachperson weiss nicht genau weshalb.

Ein Netzwerk – viele Informationen und Möglichkeiten

Das Portal "Netzwerk Schlüsselsituation" basiert auf konkreten Arbeitssituationen. Das Ziel der Datenbank ist es, Theorie und Praxis mit Hilfe von reflexivem und diskursivem Handeln zu verbinden. Also den Benutzer vom Spezifischen einer Situation zum Allgemeinen und umgekehrt zu führen. Dieser Vorgang befähigt die Nutzer, ihr implizites und explizites Wissen herauszuarbeiten, neue Wissensressourcen zu erschliessen und diese Wissensbestände konkret auf das Handeln zu beziehen. Ausgangspunkt ist immer eine selbst erlebte Situation.

Auf der Plattform werden Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit veröffentlicht und angemeldete Nutzerinnen und Nutzer können die Datenbank durchstöbern und die einzelnen Einträge lesen. Genauso wichtig ist aber die Diskussion auf dafür speziell eingerichteten Foren.

Das Netzwerk steht sowohl Fachpersonen aus der sozialarbeiterischen Praxis wie auch den Organisationen und Forschenden, die sich an einem Fachgespräch beteiligen möchten, zur Verfügung. Im Laufe der Zeit soll dabei ein diskursiv gewonnenes, gemeinsames Verständnis von professioneller Praxis der Sozialen Arbeit entstehen.

Plattform «Schlüsselsituationen»: die wichtigsten Fragen

Wir haben hier Antworten auf die zentralsten Fragen aufgelistet.

Schlüsselsituationen sind strukturierte Beschreibungen von wiederkehrenden Situationen in der Sozialen Arbeit. Natürlich ist jede Situation einzigartig. Trotzdem lassen sich Gemeinsamkeiten von ähnlichen Situationen finden und generelle Merkmale bestimmen, die den Professionellen helfen können, in einer neuen Situation angemessen zu handeln. In diesen Beschreibungen stehen die Professionellen als Akteure im Mittelpunkt. Die Schlüsselsituation ist in acht Elemente unterteilt, die das Wissen und Handeln der Fachperson in einer Situation verdeutlichen sollen.

Erarbeitet wird eine Schlüsselsituation in acht Prozessschritten, die im sogenannten "Reflexionsmodell" genau beschrieben werden.

Hier finden Sie ein kommentiertes Beispiel einer Schlüsselsituation.

Als Einstieg auf der Plattform empfiehlt sich der Bereich "Willkommen im Netzwerk Schlüsselsituationen". Hier erhält die Nutzerin oder der Nutzer wichtige Informationen zum Aufbau und zu den unterschiedlichen Bereichen auf der Plattform, Erklärungen zur Erarbeitung von Schlüsselsituationen sowie zum Aufbau des gesamten Netzwerkes.

Weiter gibt es ein "thematisches Verzeichnis", auf dem Schlüsselsituationen passend zu einem Arbeitsfeld, zu einem bestimmten Problemfeld, zu einem bestimmten methodischen Grundschritt oder nach ihrem Titel zu finden sind.

Weiter finden sich auf der Plattform ein Diskussionsforum, Informationen zu den Communities of Practice (CoP) sowie Hinweise zur Nutzung der Plattform.

Alle Schlüsselsituationen sind nach dem gleichen Schema aufgebaut. Beispielsweise finden sich unter der Überschrift "Standortgespräche" Informationen, fachliches Wissen und Beschreibungen zu Standortgesprächen, die für alle Arten von Standortgespräche gelten können und sich nicht auf ein spezielles Setting beziehen.
Darunter sind spezifischere Situationsbeschreibungen aufgelistet, die sich auf ein bestimmtes Setting beziehen. Zum Beispiel: "Standortgespräche führen/Probezeit Jugendwohnheim". Diese Beschreibung umfasst folgende Elemente:

1. Titel (z.B. „ Standortgespräche führen/Probezeit Jugendwohnheim“)

2. Situationsmerkmale (hier findet man Angaben zur Frage: worum geht es bei Standortgesprächen in der Regel?)

3. Situationsbeschreibung: Kontext und Ausgangslage (kurze Beschreibung des Kontextes einer Fallsituation und Ausgangslage)

4. Situationsbeschreibung mit „Reflection in Action“ in Handlungssequenzen (hier wird ein konkreter Fall, der anonymisiert worden ist, in verschiedenen Sequenzen beschrieben und anschliessend fachlich in Bezug auf die Emotionen, die Kognitionen und das Handeln der Beteiligten analysiert)

5. Ressourcen (hier geht es um fachliches, methodisches Wissen oder um Theorien, die zur Erklärung einzelner Aspekte herangezogen werden können)

6. Qualitätsstandards (hier wird definiert, welche Qualitätsstandards erreicht sein müssten, damit man von einem gelungenen Standortgespräch in der konkreten Situation sprechen kann)

7. Reflexion anhand der Qualitätsstandards (hier wird gefragt, ob die definierten Qualitätsstandards in der Situation eingehalten wurden /erreicht wurden)

8. Handlungsalternativen (hier werden aufgrund von theoretischen oder methodischen Überlegungen Handlungsalternativen für die Sozialarbeitende vorgeschlagen)

9. Literatur (weiterführende Literatur zum Thema)

Nutzerinnen und Nutzer der Plattform können Studierende, Professionelle, Organisationen, Lehrpersonen oder WissenschaftlerInnen in der Sozialen Arbeit sein. Wer die Plattform nutzen will, muss sich als erstes registrieren. Für die Registrierung braucht es Namen, berufliche E-Mail-Adresse, Angabe des Arbeitgebers oder der Organisation, eine kurze Erläuterung der Motivation und wie man auf die Plattform aufmerksam geworden ist. Zudem müssen die Nutzungsbedingungen und die Datenschutzerklärung akzeptiert werden. Registrierte Nutzerinen und Nutzer können sämtliche Schlüsselsituationen – also strukturierte Fallbeschreibungen gemäss dem Reflexionsmodell - einsehen und kommentieren. Kommentare können sich auf die methodisch-fachlichen Analysen beziehen oder es können spontane und persönliche Äusserungen sein wie "diese Schlüsselsituation hat mir gerade sehr geholfen". Kritisiert man einen Eintrag inhaltlich, erwarten die BetreiberInnen der Plattform einen neuen Vorschlag. Es gibt aber auch thematisch gegliederte Diskussionsforen, in denen sich die Nutzer und Nutzerinnen beteiligen und/oder eine Frage stellen können. Diese Möglichkeit, als NutzerIn mitzudiskutieren, bezeichnen die BetreiberInnen der Plattform als "Diskursmodell". Um eigene Schlüsselsituationen zu erfassen, braucht es jedoch weitergehende Autoren-Rechte (siehe unten "Wie kann ich eine eigene Schlüsselsituatione auf der Plattform erfassen?)

Registrierung auf der Plattform

Wer intensiver bei der Gestaltung von Schlüsselsituationen mitarbeiten möchte, kann sich einer Community of Practice (CoP) anschliessen. Interessierte können sich direkt bei einer sogenannten Koordinationsperson einer CoP melden. Als Mitglied einer thematischen CoP kann man Schlüsselsituationen bearbeiten und neue Schlüsselsituationen erstellen. Thematische CoP vertreten idealerweise ihr Themengebiet in der Sozialen Arbeit. Die CoPs organisieren sich selbstständig, treffen sich teilweise face to face, um die Zusammenarbeit zu organisieren und tauschen sich auch digital aus. Die Koordinationsperson einer CoP amtet auch als Ansprechperson gegenüber dem Vorstand des Vereins "Netzwerk Schlüsselsituationen in der Sozialen Arbeit". Es gibt aber auch methodische CoP, die sich nicht direkt mit Situationen der Sozialen Arbeit befassen, sondern an der konkreten Umsetzung des Modells Schlüsselsituationen arbeiten.  

Wer eigene Fallbeschreibungen einbringen und bearbeiten möchte, hat die Möglichkeit, sich als AutorIn zu bewerben. Wer vom Vorstand als AutorIn akzeptiert und aufgenommen werden will, muss über gute Kenntnisse der Plattform verfügen und die Arbeitsweise bestens kennen. Weiter muss man sich entweder durch ein Vorstandsmitglied oder eine Koordinationsperson einer CoP dem Vorstand empfehlen lassen. Oder man kann auf der Plattform eine persönliche Seite erstellen, auf der man sich vorstellt und erklärt, was man im Netzwerk einbringen kann.  

Eine weitere Möglichkeit der Mitarbeit besteht darin, dem Verein als Mitglied beizutreten. Vereinsmitglieder können direkt mitbestimmen, wie sich die Plattform in Zukunft weiterentwickeln soll. Noch mehr Mitwirkungsmöglichkeiten haben Vorstandsmitglieder. Sie verfügen über mehr Entscheidungskompetenzen auf der Plattform.  

Die Qualitätssicherung erfolgt durch ein komplexes System von Zuständigkeiten und Kompetenzen. Es ist genau geregelt, wer für welche Aufgaben auf der Plattform zuständig ist. So ist beispielsweise eine Person für die Einhaltung der Datenschutzregeln und die Netiquette zuständig. Eine andere Person kümmert sich um den technischen Support, während sich eine weitere Person darum kümmert, ob die Einträge und Diskussionen am "richtigen" Ort auf der Plattform platziert sind. Die BetreiberInnen nennen dieses System "Community Gardening", das möglichst viele aktiv an der Community beteiligen möchte. Auch die Kompetenzen sind klar geregelt. So verfügt jede CoP über eine Koordinationsperson, die zusammen mit den Vorstandsmitgliedern zum Beispiel darüber entscheiden darf, ob eine Titelgebung im Inhaltsverzeichnis der Plattform geändert wird oder nicht. Die Koordinationspersonen bilden zusammen mit den Vorstandsmitgliedern die sogenannte "Schlüssel-CoP". Diese CoP unterstützt die thematischen und methodischen CoP in ihrer Arbeit. Sie stellt Konzepte, Modelle und Infrastruktur für die CoP zusammen und entwickelt sie weiter. Die Schlüssel-CoP trifft sich regelmässig und begleitet die Arbeit in den thematischen und methodischen CoP.  

Zurzeit finden sich auf der Plattform rund 60 Schlüsselsituationen, wobei laufend neue hinzukommen. Zum Teil fehlen in den Schlüsselsituationen noch einzelne Elemente – ein Zeichen dafür, dass daran gearbeitet wird. Seit der Auftaktveranstaltung für Communities of Practice im Februar 2015, formieren sich laufend neue "Communities of Practice", das heisst Gruppen von Fachleuten, die zusammen Schlüsselsituationen erfassen und bearbeiten (siehe dazu Rubrik: Wie organisiere ich mich mit anderen?). Die Plattform befindet sich deshalb noch im Aufbau (Stand März 2016).  

Am Anfang war ein Buch: Eva Tov, Adi Stämpfli und Regula Kunz sind die AutorInnen von "Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit", das 2013 im Hep-Verlag herausgekommen ist. Damit sind sie auch die SchöpferInnen des Modells "Schlüsselsituationen". Für die technische Weiterentwicklung der Plattform ist Dominik Tschopp verantwortlich. Es gibt aber eine lange Geschichte und verschiedene weitere AkteurInnen, die später hinzugekommen sind und die Weiterentwicklung der Plattform massgeblich mitgeprägt haben, erklärt Regula Kunz auf Anfrage. Im Juni 2015 haben die Projektleitenden den Verein "Netzwerk Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit" gegründet. Der Verein betreibt die Plattform und hat sie im Februar 2016 online gestellt. Der Vorstand ist zudem für die Qualitätssicherung auf der Plattform zuständig (siehe oben "Wer sichert die Qualität der Plattform?).

Das Buch

Website bei der FHNW mit weitergehenden Erklärungen


"Ich bin Fan von diesem Modell"

Interview mit der Dozentin und Supervisorin Gaby Merten

Sozialinfo: Frau Merten, Sie sind Supervisorin in einer Praxisorganisation, die nun mit dem Modell Schlüsselsituationen arbeitet. Die Theorie zum Modell ist im Buch "Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit" detailliert beschrieben und bedient sich einer nicht ganz einfachen Sprache. Wie erklären Sie Laien dieses Modell?

Gaby Merten: Mir ist bewusst, dass es sich um ein anspruchsvolles Modell handelt und viel Zeit in Anspruch nimmt. Trotzdem besticht das Modell in seiner Einfachheit und Klarheit, denn es hilft die eigenen Denkschemas zu vereinfachen. Das Modell ermöglicht ein strukturiertes Vorgehen beim Analysieren von Situationen im Berufsalltag. Entlang des eigenen Wissens werden Berufsleute angeleitet, Qualitätsgrössen zu bestimmen, nach denen sie ihr Handeln ausrichten. So werden sie in ihrem Tun befähigt und können ihren Handlungsspielraum erweitern.

GABY MERTEN, DOZENTIN UND SUPERVISORIN

Gaby Merten ist externe Lehrbeauftragte der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit. Als Supervisorin BSO arbeitet sie vor allem in Organisationen und Teams der Sozialen Arbeit, dies mit unterschiedlichen "Programmen". 2013 baute sie ihre 4. Organisation im Bereich der Sozialen und Beruflichen Integration auf und ist als Coach und Co-Präsidentin des Vereins ko-operativ tätig. Gaby Merten ist Mitglied im Netzwerk Schlüsselsituationen und dort in der Community of Practice tätig. Sie beschäftigt sich mit der Implementierung des Modells in Organisationen der Sozialen Arbeit.

Wie sieht Ihre Arbeit im "Netzwerk Schlüsselsituationen" aus?
Einerseits arbeite ich in einer methodischen "Community of Practice" mit, die ein Intervisionsmodell auf der Basis des Schlüsselsituationsmodells entwickelt hat. Dort bin ich Koordinatorin und gestalte den Kontakt zum Netzwerk. Andererseits arbeite ich in der Kasuistik. Als Dozentin an der Fachhochschule Nordwestschweiz leite ich die Studierenden an, die gelernten Theorien an Praxisbeispielen anzuwenden. Damit erstellen wir die erste Brücke zwischen Schule und Praxis. Mein dritter Bezug ist in meiner Arbeit als Supervisorin zu finden. Immer wieder arbeite ich in der Supervision mit Elementen des Reflexionsmodells. Ob es sich nun um eine strukturelle Frage handelt oder um eine Klientensituation: Das Reflexionsmodell hilft den Profis aus der Praxis, sich Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen. Denn ich mache die Erfahrung, dass erfahrene Praktiker in ihrem Handeln zwar sehr gut sind, aber oft nicht mehr begründen können, weshalb sie einen Prozess mit einem Klienten so gestaltet haben und woher sie ihr Wissen beziehen. Sie machen es einfach so aus ihrer Erfahrung heraus.

Ist das schlimm?
Ich finde das nicht gut. Schliesslich wollen wir eine autonome Profession sein, die ihre Arbeit begründen kann, nicht zuletzt aufgrund des Berufskodexes. Das heisst, wenn ich mein Handeln nicht in Worte fassen und bewusst machen kann, dann wird ein Teil der Fachlichkeit nicht erfüllt. Ebenso nehme ich wahr, dass Schulabgänger, die neu ins Berufsleben einsteigen, häufig grosse Hochachtung vor den alten Hasen haben. Selten stellen sie etwas in Frage und respektieren telquel den Erfahrungshintergrund der Routiniers. Damit aber übernehmen sie die Angewohnheiten der Institution und dessen Handlungsroutinen. Hier hilft das Modell, sich mit der Qualitätsfrage auseinanderzusetzen und zwingt dich, dein theoretisches und praktisches Wissen aktiv anzuwenden. 

Birgt dieses Vorgehen nicht auch die Gefahr einer Verkürzung, indem man versucht, jede erlebte Situation zu einer Standardsituation umzubiegen?
Nein, man will wegkommen von festgelegten Standardisierungen, die nur "gut" oder "schlecht" zur Antwort haben. Mit unserem Modell wird ausgehandelt, was Bedeutung bekommt in der jeweiligen Situation. Hier hilft die Diskussion in einer "Community of Practice". Erst am Schluss der Reflexion werden Kriterien benannt, die Antworten auf eine Schlüsselsituation geben sollen. Passt ein Reflexionsergebnis zu wenig, wird in der Gruppe neu verhandelt und das zirkuläre Vorgehen setzt erneut ein. Genau das ist von grosser Wichtigkeit, denn der Begründungszyklus darf und soll nie abgeschlossen sein. Damit wird die fortlaufende Weiterentwicklung garantiert. Wollte man den Begriff Qualitätsstandards so lesen, als wären diese für einmal und immer festgelegt, so wäre das falsch. Es sind Orientierungsgrössen und Ausrichtungsmöglichkeiten, die den Fachpersonen Handlungssicherheit geben und gegenüber der Klientschaft wie gegenüber der Institution ausgewiesen werden können. 

Sie arbeiten als Supervisorin in einer Fach- und Beratungsstelle im Frühbereich. Wie wenden Sie das Modell dort an?
Das Modell deckt verschiedene Bereiche ab. Denn ich wurde auch für verschiedene Aufgaben geholt. Die Fach- und Beratungsstelle hat zum Beispiel vom Dachverband Qualitätsstandards erhalten. Bei der Umsetzung der Standards in den Praxisalltag benötigten sie Hilfe. Ebenso wurde nach einer Lösung gesucht, das Wissen aus der täglichen Arbeit an die Mitarbeitenden zu transferieren. Sowohl an langjährige wie an neue Mitarbeitende. Zusätzlich kam der Wunsch auf, eine Intervision in der Organisation zu installieren und bei der Teamentwicklung behilflich zu sein. 

Für all diese Anliegen konnten Sie mit der Methodik der Schlüsselsituationen arbeiten? 
Ich habe der Beratungsstelle die Denkart des Reflexions- und Diskursmodells vorgestellt und ihnen vorgeschlagen, damit zu arbeiten. Natürlich benötigte das Modell Anpassungen, um den Bedürfnissen der Organisation wie den Mitarbeitenden gerecht zu werden. Nicht alles konnte nach Lehrbuch realisiert werden, aber die Idee des Modells wurde in dieser Form umgesetzt. In der ersten Phase erfasste ich die typischen, wiederkehrenden Arbeitssituationen der Beratungsstelle und erstellte eine Titelsammlung. Die Titel setzen den Fokus und bestimmen, unter welcher Schlüsselsituation die spezifische Situation klassifiziert werden kann. Im Anschluss wurden nach und nach die Situationen genau beschrieben. Das methodische Vorgehen sieht im Anschluss zur Situationsbeschreibung den Handlungsschritt "Reflection in Action" mittels Nachspielen der Situation vor. Diesen Zwischenschritt haben wir weggelassen. Verzichtet haben wir auch auf die explizite Nennung von Theorien und deren Beschreibung. Dieser Reflexionsschritt war für die Mitarbeitenden zu abgehoben. Wir haben das recherchierte Wissen praktisch gelassen und die theoretischen Hintergründe nicht ausführlich beschrieben. Obwohl ich einzelne Teile nicht vornehmen konnte, hat sich aus dieser Arbeitsmethodik heraus fürs ganze Team ein griffiges Denkschema entwickelt. Mit Hilfe des eingeübten Denkens konnte ich mit zwei Mitarbeitenden ein Intervisionsmodell entwickeln, das der Methodik des Reflexions- und Diskursmodell Schlüsselsituationen sowie der kollegialen Beratung entspricht und im Arbeitsalltag gute Arbeit leistet. Die so entwickelte Intervision scheint zu klappen. Denn das Team führt nun ohne meine Anweisungen eine funktionierende Intervisionen durch.

Die Eigenständigkeit der theoretischen Basis funktioniert also auch losgelöst vom Portal. Oder haben Sie auch mit der Plattform gearbeitet?Im Betrieb wurde eine eigene Plattform entwickelt. Die erwähnte Titelsammlung mit den dazugehörenden Beschreibungen wurde so aufbereitet, dass diese für sämtliche Mitarbeitenden einsehbar sind. Gleichzeitig wurden diese auch mit den Standards der Dachorganisation verlinkt. Mit dieser Arbeit stellten wir eine Ordnung her, die das Wissen der Organisation sammelt und den Zugang für alle herstellt.

Die Plattform "Schlüsselsituation" kann vielfältig genutzt werden. Könnte es sein, dass vor allem gesichtet wird und weniger diskutiert?
Das ist schon möglich. Dies ist aber nur ein Teil von der Idee. Ich wünsche mir ebenso den Fachaustausch auf der Diskursplattform. Spannend wird es nämlich erst dann, wenn ich mich aktiv beteilige und zum Beispiel in eine bestehende Schlüsselsituation meine Erfahrung eintrage und nicht nur Situationen nachlese. Um mich am sozialen Lernen zu beteiligen, wofür die Plattform ja steht, benötigt es diesen Schritt. Das heisst, ich muss mich mit meinen spezifischen Fragen zu erkennen geben, damit ich mein Anliegen gemeinsam mit anderen diskutieren und mich virtuell weiterbilden und fachlich austauschen kann. Mehrheitlich wird gelesen und leider wenig verschriftlicht. Zu Beginn benötigt es ein wenig Mut, sich zu exponieren, denn schliesslich tritt man mit Klarnamen auf. Diese Hemmung gilt es zu überwinden, um in eine professionelle Auseinandersetzung zu treten.

Haben Sie weitere Anfragen von Institutionen, die mit dem Modell der Schlüsselsituationen arbeiten möchten?
Ja, ein städtischer Sozialdienst ist an einer Mitarbeit interessiert und wir sind gespannt, was daraus entsteht.

Die Ressourcen sind auf einem Sozialdienst in der Regel äusserst knapp. Wie können da solche Zusatzaufgaben bewerkstelligt werden?
Das ist ein Problem. Das Erfassen von Schlüsselsituationen ist zeitintensiv und den wenigsten Mitarbeitenden, die sich in einer "Community of Practice" engagieren, wird von der Institution das nötige Zeitguthaben zugesprochen. So mussten sich Leute aus den Diskussionsgruppen verabschieden, da ihnen schlicht die Zeit fehlte. Hier werden Antworten gesucht!

Zum Schluss: Was halten Sie ganz allgemein von dieser Methode?
Ich bin Fan von diesem Modell. Mir hat es den Ärmel herein genommen, weil ich in meiner Praxis immer wieder nach Antworten auf Herausforderungen gesucht habe. Mit diesem Modell habe ich eine Heimat gefunden. Die klare Struktur hilft mir ungemein, das nötige Fachwissen aufzusuchen und dies mit der Praxis zu verknüpfen. Der Gewinn stellt sich aber erst dann ein, wenn ich in einer Gemeinschaft aktiv sein kann.


Grosses Engagement für die Schlüsselsituationen

Eine Sozialpädagogin und eine Sozialarbeiterin erzählen, wie ihnen die neue Plattform in ihrem Berufs- und Bildungsalltag hilft und wie sie von der Kooperation mit Gleichgesinnten beim Erarbeiten und Dokumentieren von Schlüsselsituationen profitieren.

SYLVIE SCHÖNMANN

Sylvie Schönmann ist ausgebildete Sozialpädagogin und hat eine Weiterbildung zur Arbeit mit Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung absolviert. Seit 17 Jahren arbeitet sie in diesem Bereich.

Mit den "Schlüsselsituationen" kam Sylvie Schönmann erstmals in Berührung, als sie sich an der Fachhochschule Nordwestschweiz - Soziale Arbeit für den Kurs zur Praxisausbildnerin anmeldete. Die Fachhochschule führte in diesem Jahr einen speziellen Durchgang mit dem Schwerpunkt zur Arbeit mit Schlüsselsituationen durch. Während ihres Kurses begleitete Sylvie Schönmann eine Gruppe von vier Studierenden bei der Erarbeitung von Schlüsselsituationen. Seit Abschluss des Kurses arbeitet sie nicht mehr an der Entwicklung von Schlüsselsituationen mit. Nach wie vor interessiert sie sich jedoch für das Projekt und benutzt die Datenbank mit den Schlüsselsituationen immer wieder für ihre eigene Arbeit.

HEIKE GÜDEL

Heike Güdel arbeitet als Sozialarbeiterin beim Sozialdienst der Stadt Bern, wo sie im Rahmen der Sozialhilfe in der Fachstelle Suchthilfe tätig ist. 

Heike Güdel, Sozialarbeiterin

Heike Güdel arbeitet als Sozialarbeiterin beim Sozialdienst der Stadt Bern, wo sie im Rahmen der Sozialhilfe in der Fachstelle Suchthilfe tätig ist. Beim Projekt Schlüsselsituationen war sie von Beginn weg aktiv, sowohl als Mitglied im Projekt, als auch als Vertreterin aus der Praxis in verschiedenen Communities of Practice (CoP). Diese Mitarbeit bei der Plattform Schlüsselsituationen leistet sie als Freiwillige. Für ihren Arbeitgeber war das Projekt am Anfang noch zu vage, man habe sich nicht vorstellen können, welche Chancen das für den Betrieb geben könnte, so Güdel. Andererseits stünden die Sozialdienste immer unter grossem politischem Druck und müssten ihren Ressourceneinsatz rechtfertigen.  

Schlüsselsituationen als Inspirationsquelle

Für Heike Güdel ist es die Praxisnähe, die den Nutzen der Schlüsselsituationen ausmacht: „Wenn ich ein Problem im Arbeitsalltag habe, dann kann ich eine Schlüsselsituation zu einem ähnlichen Problem suchen“. Diese Schlüsselsituationen werden in einem aufwändigen Verfahren von den „Communities of Practice“, kurz CoP, erarbeitet. Ein Engagement in einer thematisch oder methodisch definierten Diskussionsgruppe ist allerdings keine Bedingung für die Mitarbeit. Laut Heike Güdel gibt es auch andere Möglichkeiten, sich zu beteiligen: „Eine CoP erarbeitet eine Schlüsselsituation nicht im Alleingang, sondern andere Teilnehmer können mitarbeiten. Es ist wie ein Wiki und lebt von dieser Community, die das immer weiter entwickelt und auch immer wieder überprüft.“ Die Mitarbeit in einer CoP sei für sie jedoch zentral, findet Güdel: „Man reflektiert, diskutiert und lernt so voneinander. Das finde ich das Spannende.“ Die Arbeit an den Schlüsselsituationen könne man sich als eine Art Intervision vorstellen, bei der man jedoch die Resultate der Community verfügbar macht. Ähnlich äussert sich auch Sylvie Schönmann. Eine Supervision oder Intervision sei nicht immer möglich. Die Online-Plattform mit den Schlüsselsituationen könne sie hingegen jederzeit und schnell konsultieren, erklärt sie.

Was bringt der Zugang zu diesem Netzwerk der einzelnen Sozialarbeiterin? "Man kann in diesen Beschreibungen nach Anstössen für sich selber und für den eigenen Arbeitsalltag suchen", erklärt Schönmann. Sie finde Hinweise auf Theorien und könne diese bei Interesse auch nachlesen gehen. Aber auch wenn jemand keinen grossen theoretischen Wissenshintergrund habe, seien die Beschreibungen verständlich. Wer offen sei für andere Herangehensweisen, als er oder sie bisher gekannt habe, für den könnten diese Beschreibungen wertvolle Inputs für den eigenen Arbeitsalltag geben, so Schönmann. In der täglichen Arbeit schleiche sich mit den Jahren meist eine Routine ein und man handle immer wieder gleich, ohne es zu hinterfragen. Beim Lesen der Schlüsselsituationen realisiere sie, dass es auch andere Herangehensweisen oder Sichtweisen gebe.

Arbeit in der Community of Practice - CoP

Heike Güdel hat schon in mehreren CoPs zu verschiedenen Themen mitgearbeitet. Zurzeit engagiert sie sich in der Gruppe "Kommunikation, Gespräch und Beratung". Die Zusammenarbeit innerhalb der CoPs kann sehr frei gestaltet werden, erzählt Frau Güdel. Wenn sich eine Community formiert hat, wird die konkrete Zusammenarbeit zuerst abgesprochen: „Das handhaben die verschiedenen CoPs sehr individuell, gerade auch was die Häufigkeit der physischen Kontakte angeht. Die Teilnehmenden kommen oft aus verschiedenen Teilen der Schweiz, und ausserdem gibt es auch noch die internationalen CoPs, wo es noch schwieriger ist.“

Die Erarbeitung einer neuen Schlüsselsituation kann dabei sehr intensiv sein, wie Güdel erzählt: „Eine Kollegin wird an unser nächstes Kontakttreffen eine Schlüsselsituation mitbringen. Dann werden wir den Fall als Rollenspiel umsetzen, um die emotionale Betroffenheit auch nachempfinden zu können. Daraus wird eine erste Fassung der Schlüsselsituation erarbeitet, an der dann kontinuierlich weitergearbeitet wird. Der gegenseitige Austausch und die Diskussionen können natürlich dann auch virtuell über die Plattform gemacht werden.“

Vom Einzelfall zum Allgemeinen

Kann aus Einzelfällen, die ja oft sehr spezifisch sind, Allgemeines herausdestilliert werden, das wieder auf andere Fälle angewandt werden kann? Heike Güdel bejaht: „Theoretisches Wissen entsteht immer aus dem Konkreten. Und da gibt es immer wieder Ähnlichkeiten. Im Suchtbereich ist das beispielsweise, dass Leute ihre Therapie abbrechen. Aber natürlich muss man bei der Anwendung einer Schlüsselsituation auf einen Einzelfall immer beachten, dass jeder Einzelfall anders ist.“ Dieser Ansicht ist auch Sylvie Schönmann: "Eins zu eins" könne man diese Situationen nicht übernehmen.

Die Schlüsselsituationen können auch Argumentationshilfe für die konkrete Arbeit geben, so Güdel. Oft beeinflussen Vorgaben der Organisation das professionelle Handeln. Erkenntnisse, die man aus der Reflexion einer Schlüsselsituation gewonnen hat, können aber dazu führen, dass man Vorgaben einer Institution auch einmal fachlich begründet in Frage stellt. Dies hat Sylvie Schönmann in der Arbeit mit den Studierenden erfahren, als eine Studentin die Vorgaben einer Institution genauer analysierte.

Verfahrenslogik vs. Intuition

Könnte die Idee einer Falldatenbank zu einer reduktionistischen Sichtweise führen? Schliesslich beinhaltet sie die Versuchung, jeden Einzelfall auf eine Standardsituation herunterzubrechen, und dann nach einem vorgefertigten Verfahren vorzugehen. Und: wäre damit die sozialarbeiterische Intuition in Gefahr? Heike Güdel sieht hier keine Gefahr. „Wenn ich einem Klienten gegenüber sitze, entscheide ich vieles aufgrund meines professionellen Habitus und meines internalisierten Wissens. Da schaue ich nicht bei den Schlüsselsituationen nach. Aber wenn ich sehe, dass ich in gewissen Situationen immer wieder Schwierigkeiten habe, dann kann eine solche Schlüsselsituation sehr hilfreich sein.“ Es bestehe auch deshalb keine Gefahr des Funktionalismus, da in den Schlüsselsituationen jeweils nicht nur eine einzige Methode oder Handlungsmöglichkeit beschrieben werde, sondern es gebe immer mehrere Möglichkeiten, etwas theoretisch zu verorten. Jede Schlüsselsituation beinhalte dann auch verschiedene Aspekte, die berücksichtigt würden.

Soziale Arbeit als methodische Profession stärken

Wie gross ist die Bereitschaft, eigene Erkenntnisse, oder auch Unterlagen, die erarbeitet worden sind, mit anderen Diensten zu teilen? Spielt hier das Gärtli-Denken eine Rolle, oder bietet die Plattform gerade eine Chance, dies aufzubrechen? Heike Güdel ist überzeugt, dass das Gärtli-Denken für das Weiterkommen der Profession hinderlich ist: „Dazu benötigt es Kooperation und die Bereitschaft, Wissen auszutauschen.“ Sie selbst sei schon immer daran interessiert gewesen, über Methodik zu sprechen. Gerade die Arbeit auf dem Sozialdienst sei zurzeit stark geprägt von gesetzlichen Fragen, von den Diskussionen um die SKOS. Dass da aber Soziale Arbeit geleistet werde, die auch methodisch etwas zu bieten habe, das komme in der öffentlichen Diskussion kaum zum Tragen, findet sie. Die Plattform Schlüsselsituationen bietet für Heike Güdel hier eine Chance: „Der einzelne Sozialarbeiter hat ganz viele methodische Qualifikationen. Mit dem neuen Online-Angebot ist es nun möglich, dass man sein eigenes Wissen einbringt und einen gemeinsamen Fundus von Methodik und Theoriewissen entwickelt und auch eine Sprache prägt.“ Laut Heike Güdel gibt es im deutschen Sprachraum bereits eine starke Vernetzung, in der das Wissen weitgehend geteilt wird. „Wir übernehmen viel Fachwissen auch aus diesem Raum. Was sich unterscheidet sind die Rahmenbedingungen, das kann in den konkreten Situationen zum Tragen kommen, ist aber nicht störend.“


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