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Wenn Geburt und Tod zusammenfallen

Oktober 2024

Der Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft oder auch kurz nach der Geburt ist für Eltern eine leidvolle Erfahrung. Dies gilt oft auch für geplante Schwangerschaftsabbrüche. Fachpersonen der Sozialen Arbeit können Betroffenen wertvolle Unterstützung bieten.

Jährlich sterben über 700 Kinder in der Schweiz in der zweiten Schwangerschaftshälfte oder rund um die Geburt. Der Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft, Geburt oder in der ersten Lebenszeit hat tiefgreifende emotionale Auswirkungen auf Eltern, Geschwister und Angehörige. Fachpersonen der Sozialen Arbeit können mit Familien in Berührung kommen, die vom frühen Verlust ihres Kindes betroffen sind. Dieser Gastbeitrag der Fachstelle Kindsverlust gibt erste Anhaltspunkte und Orientierung für einen kompetenten Umgang mit betroffenen Personen. 

Ursachen für frühen Kindsverlust

Jede dritte bis vierte Schwangerschaft endet in den ersten drei Monaten mit einer Fehlgeburt. Sterben Kinder während Schwangerschaft, Geburt oder in erster Lebenszeit, sind Fehlentwicklungen, schwere Erkrankungen der Mutter, Fehlbildungen der Gebärmutter oder Infektionen die häufigsten Ursachen. 

Fehlgeburt und Totgeburt 

 Vor der 22. Schwangerschaftswoche spricht man von einer Fehlgeburt, unterteilt in frühe (bis zur 12. Woche) und späte Fehlgeburt (12. bis 22. Woche). Ab der 22. Woche spricht man von einer Totgeburt. 

Schwangerschaftsabbrüche erfolgen oft und halten sich in der Schweiz nach Bundesamt für Statistik stabil mit jährlich rund 12‘000 Fällen. 95% der frühzeitigen Beendigungen der Schwangerschaften erfolgen in den ersten 12 Schwangerschaftswochen.  

Nach dem Schock die Bindung stärken 

Die Diagnose, dass das Kind schwer krank ist oder bereits gestorben ist, ist ein immenser Schock für betroffene Eltern. Wichtig ist es, den Schock zu verarbeiten und zu begreifen, was passiert ist. Nach der Diagnose ist es grundlegend, die Bindung zum Kind wieder zu stärken, um die gemeinsame Zeit bewusst gestalten zu können. Begleitende Fachperson können hier wertvolle Unterstützung bieten.  

Willkommen heissen und Erinnerungen schaffen

Abschiednehmen vom verstorbenen Kind, das umgangssprachlich oft als «Sternenkind» bezeichnet wird, ist ein wichtiger Prozess. Wenn Eltern sich Zeit nehmen, um das verstorbene Kind willkommen zu heissen, können sie wertvolle Erinnerungen schaffen, die bei der Bewältigung helfen. Die Bestattung ist ein schwerer, aber wichtiger Schritt. Sie kann als Erdbestattung oder Kremation erfolgen, auch für sehr kleine verstorbene Kinder gibt es Möglichkeiten, die schweizweit von Gemeinde zu Gemeinde variieren. Mehr Orientierung finden sich hier

Eltern bzw. Familien eines verstorbenen Kindes können mitbestimmen, wie sie Abschied nehmen und was sie mit den sterblichen Überresten machen möchten. Dies kann vom Basteln und Bemalen eines kleinen Sargs bis hin zum Gestalten von Erinnerungsboxen reichen. Die dadurch geförderte Selbstwirksamkeit der Eltern ist nachweislich hilfreich für das Weiterleben der Familie.  

Hebammen sind wichtige Ansprechpersonen

Die Hebamme begleitet die Familie medizinisch und emotional, auch wenn das Kind verstirbt. Damit ist die Hebamme die erste und meist wichtigste Ansprechpartnerin und bietet niederwellige Unterstützung nach einem frühen Kindsverlust. Diese Leistung wird ab der 13. Schwangerschaftswoche von der Grundversicherung übernommen. 

Auch Fachpersonen der Sozialen Arbeit können, als Mitarbeitende von Beratungsstellen, in Entscheidungsprozess involviert sein, etwa bei einem möglichen Schwangerschaftsabbruch. Sie nehmen damit eine wichtige Schlüsselrolle wahr. Weitere hilfreiche Betreuungsangebote können Gesprächsgruppen, spezialisierte Rückbildungsangebote, Trauerbegleitung oder eine seelsorgerische Betreuung sein.  

Den Eltern als Eltern begegnen 

Das persönliche Umfeld, aber auch Fachpersonen sollten den Eltern als Eltern begegnen, Fragen stellen und zuhören. Ausbleibende Reaktionen oder gut gemeinte Ratschläge können verletzend sein. Wichtig ist eine langfristige Unterstützung, denn der Verlust wird die Eltern vermutlich noch länger beschäftigen. Daher ist es auch in späteren, schwierigen Momenten wichtig, dass die Betroffenen Personen haben, die ihnen beistehen. Konkrete Orientierung für Angehörige betroffener Eltern sind hier zu finden.  

Geschwisterkinder sind mitbetroffen

Geschwisterkinder sollten in den Trauerprozess miteinbezogen werden, um ihre eigene Trauer zu verarbeiten und Abschied nehmen zu können. Kinder haben einen natürlichen Umgang mit Tod und Sterben. Sie sollten bedürfnisgerecht informiert und unterstützt werden. Mehr dazu ist in der Fachbroschüre «Trauernde Geschwister» zu finden, die hier bestellt werden kann.  

Fragen oder Unsicherheiten in Ihrer Begleitung? 

Der Beratungsdienst der Fachstelle Kindsverlust ist gerne für Sie als Fachperson da. Wir unterstützen Sie in Ihrer Begleitung betroffener Familie kostenlos per Telefon 031 333 33 60 jeweils am Dienstag- oder Donnerstagmorgen oder Mail an fachstelle@kindsverlust.ch.

Jeder Mensch trauert anders – auch in der Partnerschaft

Trauer und der Umgang damit sind sehr individuell. Es ist wichtig, dass Fachpersonen Verständnis für unterschiedliche Bewältigungsstrategien aufbringen und betroffenen Paaren helfen, gemeinsame Wege zu finden, die Trauer zu verarbeiten. Das gilt für alle Beziehungen und insbesondere für die Partnerschaft betroffener Eltern. 

Als Fachperson beistehen

Der Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft, Geburt oder frühen Lebenszeit ist eine tiefgreifende Erfahrung. Unterstützung durch Fachpersonen, das Umfeld und spezielle Angebote können Eltern helfen, den Verlust zu verarbeiten. Involvierte Fachpersonen können mit einer kompetenten Begleitung den Grundstein für ein gesundes Weiterleben der betroffenen Familien legen.  


«Der Tod ist nach wie vor ein Tabuthema»

Die Sozialarbeiterin Lea Ming ist bei «elbe – Fachstelle für Lebensfragen» mit dem Schwerpunkt Schwangerschafts- und Sexualberatung tätig. Die Beratung und Begleitung von Personen, die von Kindsverlust betroffen sind, gehört zu ihrem Arbeitsalltag. Darüber spricht sie im Interview.  

Sozialinfo/Martin Heiniger: Lea Ming, Sie arbeiten hauptsächlich im Bereich Schwangerschaftsberatung und begleiten dabei auch Menschen mit Wunsch nach einem Schwangerschaftsabbruch. Welche Rolle spielt das Thema Kindsverlust?
Lea Ming: Zuerst gilt es einen Unterschied zu machen. Auf unsere Fachstelle kommen zum einen Menschen, die ein Kind während der Schwangerschaft oder auch kurz nach der Geburt verloren haben. Zum anderen suchen uns Personen auf, die einen Schwangerschaftsabbruch planen oder gemacht haben. Das sind Personen, die etwa von einer ungeplanten Schwangerschaft betroffen sind, oder die sich mit einem Schwangerschaftsabbruch auseinandersetzen, nachdem beim ungeborenen Kind eine Krankheit oder Fehlbildung diagnostiziert wurde. Fälle ungeplanter Schwangerschaft sind bei uns häufiger, als dass Betroffene ungewollt ein Kind verloren haben.

LEA MING

Sozialarbeiterin BA, MAS Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- & Sozialbereich, Basislehrgang in klinischer Sexologie Sexocorporel

elbe – Fachstelle für Lebensfragen

lea.ming@elbeluzern.ch 

Was sind die Beratungsthemen bei Schwangerschaftsabbrüchen?

Wir begleiten betroffene Menschen in der Entscheidungsfindung und versorgen sie auch mit Informationen und Gedankenanstössen dazu, was es bedeuten könnte, wenn sie sich für den einen oder den anderen Weg entscheiden. Dabei ist es hilfreich, Trauer- und Verarbeitungsprozesse schon zu thematisieren und darüber zu sprechen, wie es sein könnte, wenn die Schwangerschaft abgebrochen würde. Das Bewusstsein, dass auch Menschen um ihr Kind trauern dürfen sollen, die sich bewusst für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden haben, ist heute grösser. Auch die Fachstelle Kindsverlust bietet dazu Ausbildungen an. Das ist sehr wichtig, denn auch diese Betroffenen verlieren ein Kind. Es gibt Frauen und/oder Paare, die einen Trauerprozess durchleben und Hilfe brauchen, wie es auch Menschen gibt, die erleichtert sind und keine Unterstützung brauchen.

Schwangerschaftsabbruch und ungewollter Kindsverlust sind gesellschaftlich eher tabuisiert. Gibt es Anzeichen für einen offeneren Umgang damit?

Ich denke, es ist eine etwas grössere Offenheit entstanden. In den letzten Jahren ist das Angebot bei der Verarbeitung, etwa durch medizinisches Personal oder psychosoziale Institutionen, umfassender geworden, und Organisationen wie die Fachstelle Kindesverlust bieten Weiterbildungen an. Das sind sicher Zeichen dafür, dass das Thema mehr Beachtung in der Gesellschaft findet. Aber der Tod ist nach wie vor ein Tabuthema. Wenn ich Betroffene begleite, stelle ich oft fest, dass das Umfeld nicht weiß, wie es damit umgehen soll. Bei Schwangerschaftsabbrüchen schweigen auch die Betroffenen selbst häufig aus Angst vor Stigmatisierung und tragen so unwillentlich dazu bei, dass es weiterhin ein Tabuthema bleibt. Gesellschaftlich braucht es hier noch einiges, um einen guten, gesunden Umgang zu finden, der für die Betroffenen und auch für das Umfeld hilfreich ist.

Mit welchen Anliegen kommen Betroffene zu euch?

Häufig geht es darum, dem Erlebten einen Sinn zu geben und es einordnen zu können. Manchmal können Betroffene aber gar nicht so genau sagen, was ihr Anliegen ist. Dann geht es darum herauszufinden, welche Unterstützung für sie hilfreich sein könnte, oder auch, was sie selbst tun können. Manchmal brauchen sie eine Möglichkeit, ihre Liebe auszudrücken, die sie trotz Erleichterung nach einem Schwangerschaftsabbruch fühlen. Da kann es auch darum gehen, überhaupt herauszufinden, was für eine Art von Beziehung das ist, zu diesem Ungreifbaren. Um den Abschied bewusst zu gestalten und den Verlust in den Alltag zu integrieren, kann es helfen, etwa eine Erinnerungsbox oder ein Erinnerungsbuch zu gestalten.

Wo ist die Grenze zu therapeutischer Arbeit?

Per Definition biete ich psychosoziale Beratung an, keine Psychotherapie, wobei wir auch eine Psychotherapeutin im Team haben, an die ich bei Bedarf triagieren kann. Die Grenzen zwischen Beratung und Therapie sind aber sicher unscharf, sodass meine Beratungen manchmal auch therapeutische Aspekte haben.

Was ist für Fachpersonen der Sozialen Arbeit, die mit dem Thema Kindsverlust konfrontiert werden, zu berücksichtigen?

Es ist wichtig, dass man sich selbst gefragt hat, wie man zum Tod steht und welchen persönlichen Bezug man zu diesem Thema hat. Dazu gehört auch zu wissen, was für einen selbst schwierig ist. Wenn jemand selbst schon einen Kindsverlust erlebt hat, kann das Thema ein Flashback auslösen. Wichtig sind auch ehrliche und authentische Reaktionen. Zum Ausdruck zu bringen, dass man nicht weiss, was man sagen soll, ist viel besser und authentischer, als das Thema aus Überforderung zu bagatellisieren. Eigene Betroffenheit, vielleicht sogar Tränen, sind gute und wichtige Reaktionen und nicht ein Zeichen dafür, dass man nicht professionell ist.

Heisst das, dass man nicht zu schnell auf organisatorische Fragen oder die Handlungsebene gehen sollte, sondern zuerst den Emotionen genug Platz gibt?

Jein. Es kommt vor allem darauf an, was das Gegenüber braucht. Die Prozesse, die die Betroffenen durchmachen, sind sehr unterschiedlich und individuell. Manche Betroffenen überfordert es, sich zu stark auf die Emotionen einlassen. In solchen Fällen ist es wichtig, dass Fachpersonen dies respektieren und schauen, welche Bedürfnisse da sind. Manchen Menschen hilft es, sich auf Alltagsfragen zu konzentrieren.

Wann ist es angezeigt, dass man Betroffene weiterverweist an spezialisierte Angebote wie Euch, oder auch an psychologische Unterstützungsangebote?

Wenn die Klient*innen das Gefühl haben, sie brauchen ein spezialisiertes Angebot, oder wenn man als Fachperson merkt, dass man mit dem Thema überfordert ist, ist es sicher sinnvoll, ein anderes Angebot zu suchen. Ein anderer Fall ist, wenn Sozialarbeitende, aber auch Angehörige oder die Betroffenen selbst Anzeichen für eine Depression oder eine psychische Schwierigkeit erkennen. Gleichzeitig ist es sehr individuell, wie jemand einen Todesfall erlebt, deshalb ist es auch wichtig darauf zu achten, dass ein Verhalten nicht vorschnell pathologisiert wird.

Wie ist denn die Versorgungslage für Beratungsangebote wie das Ihre in der Schweiz?

Wir kennen die kantonalen Schwangerschaftsberatungsstellen anderer Regionen oder auch persönlich einige Mitarbeitende von anderen Fachstellen, die psychosoziale Beratung zu reproduktiver und sexueller Gesundheit anbieten. In der Regel ist dies kantonal geregelt. Manchmal sind Beratungspersonen auch an Spitäler angeschlossen. Kindsverlust ist da aber nicht überall ein explizites Thema.

Gibt es abschließend noch etwas, das Sie sagen möchten?

Ich würde sagen, habt keine Angst vor diesem Thema! Wenn man sich als Fachperson damit auseinandersetzt, kann es sehr bereichernd sein, sowohl für das Gegenüber, das Unterstützung bekommt, als auch für einen selbst. Nebst dem, dass es oft unendlich traurig ist, ist es oft auch sehr schön und berührend, Menschen darin begleiten zu dürfen. Die Liebe zu sehen, die oft damit verbunden ist, finde ich etwas sehr Schönes an meiner Arbeit.


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