Mit dem «Eltern Walk-in» ist in Bern ein Beratungsangebot entstanden, das sich an Eltern mit Kindern ab dem Schulalter richtet. Damit wird eine Angebotslücke geschlossen und gleichzeitig ein Format erprobt, das konsequent auf Niederschwelligkeit setzt.
Sozialinfo: Mit dem Eltern Walk-in bietet Ihr seit letztem Herbst ein neues, niederschwelliges Beratungsformat an. Wodurch unterscheidet es sich von anderen Familienberatungsangeboten?
Fabian Näf: Wir bieten explizit Beratung für Familien mit Kindern ab fünf Jahren an. Das gab es bisher nicht. Eigentlich verblüffend, wenn man bedenkt, wie herausfordernd Erziehung ist.
Sonja Pihan: Für Eltern mit Kindern im Schulalter ist die Mütter- und Väterberatung nicht mehr zuständig, und dann wissen die Fachstellen oft nicht, wohin sie diese verweisen sollen. Als Leiterin des Mütterzentrums Bern-West während zehn Jahren habe ich diese Angebotslücke selbst erlebt. Mit dem Eltern Walk-in wollen wir Familien präventiv unterstützen, bevor ihr Kind von der Schule der Erziehungsberatung zugewiesen wird oder die Behörden auf sie aufmerksam werden.
Eltern Walk-in
Seit November 2023 betreibt SORA, eine Institution der Burgergemeinde Bern, im Berner Generationenhaus das Eltern Walk-in. Das Beratungsangebot ist eigenfinanziert. Die Finanzierung ist für drei Jahre gesichert.
Die Beratenden sind erfahrene Mitarbeiter*innen von SORA, die jeweils zu 15 Prozent für das Eltern Walk-in arbeiten und über eigene Erfahrung als Elternteil, Beratungserfahrung im sozialpädagogischen Bereich und Weiterbildung in systemischer Beratung verfügen.
Ihr legt viel Wert auf Niederschwelligkeit. Worin besteht die?
Fabian Näf: Ein Walk-in-Angebot ist strukturell niederschwellig. Das Generationenhaus ist örtlich zentral gelegen, und man kann jederzeit auch ohne Termin zu uns kommen. Zudem ist unsere Beratung kostenlos.
Sonja Pihan: Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Freiwilligkeit. Eltern kommen zu uns, weil sie Bedarf nach einem Rat haben. Sie entscheiden selbst, ob sie einmal oder mehrmals kommen und worüber sie sich mit uns austauschen wollen. Dabei ist unsere Beratung, im Gegensatz zu anderen Angeboten, nicht auf bestimmte Themen spezialisiert. Zu uns können Erziehende mit allen Anliegen rund um Familienfragen kommen.
Gibt es Zuweisungen von anderen Stellen?
Sonja Pihan: Nein, Zuweisungen würden der Freiwilligkeit widersprechen. Aber manche anderen Stellen empfehlen uns weiter, etwa die Mütter- und Väterberatung, wenn deren Zuständigkeit endet. Es kommt auch vor, dass wir Ratsuchende weitervermitteln, wenn wir sehen, dass es für ein bestimmtes Problem ein geeigneteres Beratungsangebot gibt, z.B. die Berner Schuldenberatungsstelle oder die Suchtberatungsstelle Berner Gesundheit.
Was sind die häufigsten Themen, mit denen Eltern zu Euch kommen?
Fabian Näf: Bei jüngeren Kindern geht es oft um Konfliktsituationen und um Fragen zum Medienkonsum. Bei Familien mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen geht es eher darum, wie diese in die Selbständigkeit finden, wie man Ablösung gestaltet oder wie es gelingt, als Wohngemeinschaft zusammenzuleben.
Sonja Pihan: Bei Konflikten kann es sein, dass sich Eltern in Erziehungsfragen uneinig sind. Es gibt aber natürlich auch den Konflikt zwischen einem oder beiden Elternteilen und dem Kind.
Kommt es vor, dass Paarkonflikte über Erziehungsfragen ausgetragen werden?
Fabian Näf: Das kommt regelmässig vor, und das thematisieren wir natürlich. Wir helfen den Familien dabei, die Kinderebene und die Paarebene auseinanderzuhalten. Gemeinsam gehen wir der Frage nach, wie man zu einer guten Elternsprache kommt. Bei getrennten oder gar zerstrittenen Eltern ist das besonders wichtig.
Sonja Pihan: Dabei geht es darum, dass die Eltern das Kindeswohl nicht aus den Augen verlieren, sondern den Fokus auf ihre gemeinsame Elternrolle legen. Für die Lösung von Paarkonflikten weisen wir die Eltern meist weiter.
Kann die Freiwilligkeit auch eine Hürde darstellen, etwa bei Tabuthemen?
Fabian Näf: Ja. Beispielsweise braucht es bei Familien mit Gewaltpotenzial vorgängige Beziehungsarbeit, damit sie sich öffnen können. Da versuchen wir, Kontakte zu Personen zu nutzen, die einen guten Draht zur Bevölkerung haben, und die unser Beratungsangebot empfehlen können. Das können etwa Personen sein, die in einer Community eine besondere Glaubwürdigkeit geniessen, oder Schlüsselpersonen von Institutionen wie etwa der Berner Gesundheit, der Quartierarbeit, der offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (DOK,Toj) oder der Mütter- und Väterberatung.
Seid Ihr auf Personen im Stadtgebiet ausgerichtet oder gibt es auch auswärtige Personen?
Sonja Pihan: Anhand der Postleitzahlen, die wir für die Statistik erheben, sehen wir, dass wir in der Innenstadt am bekanntesten sind, vor allem bei Familien, die sozioökonomisch eher bevorteilt sind. Nebst Personen aus Bern und Umgebung gibt es aber auch vereinzelt auswärtige Personen, die zu uns kommen. Dem gegenüber sind wir offen, da könnte auch jemand aus einem anderen Kanton kommen. Wir hatten auch schon ein getrenntes Paar mit einer Mutter aus Bern und einem Vater, der sich per Teams aus Basel zugeschaltet hat. Wir machen uns aber Gedanken, wie wir die Bevölkerung in den Aussenquartieren besser erreichen können. Gerne möchten wir auch im Berner Westen und Berner Osten die Beratungslücke schliessen.
Gibt es Bevölkerungsgruppen, die Ihr bislang nicht erreicht?
Sonja Pihan: Die Migrationsbevölkerung findet bislang den Weg noch weniger zu uns ins Generationenhaus. Ein Grund könnte die Sorge sein, dass wir bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung eine Meldung an die Kindesschutzbehörde machen müssen. Für Menschen, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, kann das besonders problematisch sein. Wie alle Institutionen, die mit Familien arbeiten, sind wir meldepflichtig, wenn wir im Rahmen unseres Angebots nicht Abhilfe schaffen können. Da die Familien nicht verpflichtet sind, wiederzukommen und nicht einmal zwingend ihren Namen angeben müssen, wird es jedoch in der Praxis kaum zu einer Meldung kommen. Das Ziel unserer Beratung liegt darin, die Familien präventiv zu unterstützen.
Ihr führt auch keine Akten?
Fabian Näf: Nein, wir halten nichts fest und führen auch keine Gesprächsnotizen. Dadurch haben wir mehr Zeit für die Beratung zur Verfügung. Es ist auch nicht gewährleistet, dass Klient*innen bei einem weiteren Termin wieder dieselbe Person antreffen.
Sonja Pihan: Das kann Vor- und Nachteile haben. Manchmal gibt es eine Zweitmeinung, oder zusätzliche Ideen, wenn eine weitere Beratung bei einer anderen Person stattfindet. Aber natürlich können die Klient*innen auch mit eine*r bestimmten Berater*in einen weiteren Termin vereinbaren. Manchmal geben wir den Eltern etwas Schriftliches mit, das sie bei einem nächsten Termin wieder mitbringen können. Das Wichtigste ist für uns, dass die Hoheit über ihre Entwicklungen bei den Eltern bleibt.
Eure Beratung ist damit nicht primär auf Kontinuität angelegt, sondern eher auf einen Impuls, den sich die Eltern bei euch holen können?
Fabian Näf: Ja. Da Eltern oft an sich selbst zweifeln, ist es wichtig, sie erstmal in ihrer Elternrolle und ihrer Kompetenz zu stärken. Ich erlebe oft, dass dies viel bewirken kann.
Sonja Pihan: Eltern neigen nicht selten dazu, die Verantwortung an Fachpersonen delegieren zu wollen, wenn sie verunsichert sind. Für die Eltern ist es deshalb wichtig zu hören, dass sie die Fachpersonen sind. Sie wissen, was für ihr Familiensystem ideal ist, was sich bewährt und was nicht.
Ihr orientiert euch am sozialräumlichen Ansatz bei eurer Arbeit. Was heisst das konkret?
Fabian Näf: Das heisst beispielsweise, dass wir zur Verfügung stehen, sobald ein Bedarf entsteht. Dadurch können wir präventiv wirken und intervenieren, bevor es zu Situationen kommt, die viel Leid und Kosten verursachen.
Sonja Pihan: Wir helfen Ratsuchenden dabei, eine Auslegeordnung zu machen, zu priorisieren und zu klären, was sie für Ressourcen haben, um ihren Wunsch nach Veränderung zu verwirklichen.
Fabian Näf: Wichtig ist dabei, dass wir uns an den Anliegen der Menschen orientieren. Dazu gehört auch, zu eruieren, was in den Lebensentwurf passt. Vielleicht kann man nicht das Optimum umsetzen, sondern nur eine B-Variante. Die Verantwortung bleibt dabei immer bei den Eltern und sie steuern, wo es hingehen soll. Dabei staune ich oft, wie viele Überlegungen sich Menschen schon gemacht haben, bevor sie hierherkommen. Das zeugt von hoher Kompetenz.
Welchen Handlungsspielraum hatte SORA, um dieses Angebot zu kreieren?
Sonja Pihan: SORA ist eine Institution der Burgergemeinde Bern. Die Burgergemeinde setzt sich nach Massgabe ihrer Mittel für die Allgemeinheit ein. Von der Idee bis zur ersten Beratung sind nur wenige Monate vergangen und das Angebot «Eltern Walk-in» konnte entsprechend rasch, unkompliziert und mit einer finanziellen Sicherheit für die nächsten drei Jahre, realisiert werden. Dafür sind wir dankbar und erachten diese Ausgangslage als grosses Privileg.
Gibt es ein abschliessendes Statement?
Sonja Pihan: Das Lustvolle ist uns wichtig, uns allen macht das Beraten sehr viel Freude. Und auch die Eltern bedanken sich oft, weil es nicht selbstverständlich ist, eine kostenlose Beratung zu erhalten. Das ist sehr befriedigend.
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Sonja Pihan
Co-Gesamtleitung SORA; Beraterin Eltern Walk-in
E-Mail: sonja.pihan@sora-bern.ch
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Fabian Näf
Co-Bereichsorganisation SORA für Familien; Berater Eltern Walk-in
E-Mail: fabian.naef@sora-bern.ch
Autor*in
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Martin Heiniger
Fachredaktion Sozialinfo
E-Mail: martin.heiniger@sozialinfo.ch