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Eine Meldestelle für Missstände im Sport

September 2024

Personen, die von ethischen Verstössen im Sport betroffen sind, finden bei der «unabhängigen Meldestelle Swiss Sport Integrity» Unterstützung. Nebst Jurist*innen und Psycholog*innen gehören auch Fachpersonen der Sozialen Arbeit zum Team der Meldestelle.

Die «Magglinger Protokolle» bedeuteten für die Schweizer Sportwelt eine Zäsur. Sie belegten systematische Verletzungen psychischer und physischer Integrität im Trainingsalltag von Kunstturner*innen. 

Die berichteten Fälle rüttelten die Öffentlichkeit auf und regten zu einer Auseinandersetzung mit Machtgefällen, Abhängigkeiten und der damit verbundenen Gefahr von Missbrauch im Sport an. Der Ruf nach einem Kulturwandel im Sport hatte auch politische Folgen und resultierte in der Schaffung der «unabhängigen Meldestelle Swiss Sport Integrity»

Zum Team der Meldestelle gehören, nebst Jurist*innen und Psycholog*innen, auch Fachpersonen der Sozialen Arbeit wie David Zysset, der im Interview über seine Arbeit spricht.

Swiss Sport Integrity

Aufgrund der im Herbst 2020 publik gewordenen Übergriffe und Missbräuche im Kunstturnen («Magglinger Protokolle») hat das Parlament zwei Motionen (20.4331 SR und 20.4341 NR) gutgeheissen, welche eine unabhängige Meldestelle für Missstände im Sport forderten.

Im Herbst 2021 hat das Sportparlament als oberstes Organ von Swiss Olympic ein Ethik-Statut verabschiedet, das die rechtliche Grundlage für die Meldestelle bildet. Die darin formulierten Grundwerte sind für alle Sportorganisationen, die Swiss Olympic angeschlossen sind, verbindlich. 

Die Meldestelle wurde der bereits bestehenden Stiftung Antidoping Schweiz angegliedert. Daraus ist 2022 die unabhängige Stiftung Swiss Sport Integrity entstanden.

Swiss Sport Integrity wird zu 60 Prozent durch das Bundesamt für Sport (BASPO) und zu 40 Prozent durch Swiss Olympic finanziert.

Sozialinfo: David Zysset, können Sie etwas über die Entstehungsgeschichte der Meldestelle erzählen? 

David Zysset: Die unabhängige Meldestelle gibt es seit Januar 2022. Sie wurde als Reaktion auf die Magglinger-Protokolle aus dem Jahr 2020 geschaffen, die die Öffentlichkeit sehr aufgewühlt haben. Dabei ging es um Misshandlungen von Athlet*innen und unethische Trainingsmethoden. 

Was hat sich durch die Meldestelle geändert? 

Früher hatte jeder Sportverband seine eigene Anlaufstelle. Athlet*innen mussten problematische Vorkommnisse also beim eigenen Verband melden. Dabei konnte eine unvoreingenommene Handhabung nicht immer gewährleistet werden. Zudem besteht bei internen Anlaufstellen immer die Gefahr, dass Meldungen nicht mit der notwendigen Konsequenz aufgearbeitet werden. Heute steht Menschen, die von Ethikverstössen im Sport betroffen sind oder von solchen erfahren haben, eine unabhängige Anlaufstelle zur Verfügung. Unser Auftrag ist es, diese Meldungen in Deutsch, Französisch und Italienisch zu bearbeiten.   

Konnte man hier auf bestehende Modelle aus dem Ausland zurückgreifen, oder ist das eine Pionierleistung? 

Es gibt zwar Länder, die über vergleichbare Organisationen verfügen, etwa Australien oder Kanada. Aber nicht in Europa, da leisten wir sehr viel Pionierarbeit. 

Wie viele Meldungen gehen bei Ihnen ein? 

Im Jahr 2022 hatten wir 264 Meldungen und 2023 bereits 374. Auf unsere Beratungs-Hotline sind in der letzten 2 Jahre rund 550 Anrufe eingegangen. Das zeigt, dass der Bedarf da ist.  

Wie melden sich Personen bei Ihnen? 

Man kann über verschiedene Kommunikationskanäle mit uns Kontakt aufnehmen. Für die telefonische Kontaktaufnahme haben wir eine Hotline. Die meisten melden sich jedoch online über unser Meldeportal, das auf der Homepage aufgeschaltet ist. Dort kann man den Namen und Kontaktdaten angeben, oder man meldet sich anonym. Anonymität kann wichtig sein, weil es im Sportbereich viele Abhängigkeiten gibt und manche Personen Angst vor Konsequenzen haben, wenn sie mit uns in Kontakt treten. Via elektronischen Postkasten können wir dann auch mit Personen kommunizieren, welche sich anonym an uns gewandt haben.  

Der Schutz der Anonymität könnte aber auch missbraucht werden. 

Das kommt vor, wir merken das aber relativ schnell. Oftmals verwenden betreffende Personen keinen Postkasten, sondern beschuldigen jemanden anonym in vier, fünf Zeilen. Damit haben wir zu wenig in der Hand, um dem nachgehen zu können. Für uns ist es deshalb wichtig, dass wir mit den betreffenden Personen in einen Austausch treten können, auch wenn es anonym bleibt. 

Wir können oft zur Entschärfung von Situationen beitragen und sie frühzeitig abfangen.

David Zysset

Welche Hilfestellung erhalten Anrufende von Euch? 

Wir können ihnen eine erste grobe Einordnung ihrer Situation geben. Dabei geht es meist darum, welches Vorgehen ihnen dienen könnte. Oft zeigt sich, dass sie selbst noch Handlungsspielräume haben. Etwa dass es sinnvoll sein könnte, mit einer bestimmten Person das Gespräch zu suchen, bevor eine Eingabe bei der Meldestelle gemacht wird. So können wir oft zur Entschärfung von Situationen beitragen und sie frühzeitig abzufangen helfen, ohne dass es zur Meldung kommen muss. 

Was passiert, wenn jemand eine Meldung macht? 

Wir klären als erstes, ob der Bereich Ethik im Sport betroffen ist. Wenn die Eingabe in unsere Zuständigkeit fällt, klären wir, ob sich ein bestehender Verdacht erhärtet. Wenn es genügend Anhaltspunkte gibt, eröffnen wir das Untersuchungsverfahren.  

Wie setzt sich die Meldestelle zusammen? 

Wir sind ein interdisziplinäres Team. Ursprünglich waren wir zu viert, zwei Sozialarbeiter*innen, ein Jurist, und jemand aus den Sozialwissenschaften. Aufgrund der vielen Meldungen haben wir unsere Stelle in den letzten zweieinhalb Jahren auf dreizehn Personen ausgebaut. Mittlerweile sind wir fünf Jurist*innen, fünf Sozialarbeiter*innen, eine Psychologin in Ausbildung, sowie zwei Personen in der Administration. 

Wie ist Eure Stellung als Sozialarbeitende in dieser Konstellation? 

Im Idealfall bearbeiten wir die Fälle zu zweit im interdisziplinären Tandem. Zurzeit haben wir teilweise zusätzlich externe Anwält*innen, die uns unterstützen. An den wöchentlichen Fallbesprechungen nehmen zusätzlich der Rechtsdienst und die Ermittlungsabteilung von Swiss Sport Integrity teil. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist sehr bereichernd und auf Augenhöhe. Durch das geballte Fachwissen aus den verschiedenen Disziplinen im Team entstehen immer wieder gute Lösungen. 

Im Dopingbereich werden die Namen gesperrter Sportler*innen öffentlich gemacht. Kann das auch bei Personen passieren, die von Eurer Stelle verurteilt werden?  

Die Veröffentlichung eines Urteils oder eines Namens ist auch in unserem Bereich Teil der Sanktionen, die im Ethik-Statut vorgesehen sind. Das ist natürlich schwerwiegend und auch nicht immer einfach für die Sportwelt, die sich daran gewöhnen muss, dass jemand von aussen kommt und je nachdem Sanktionen oder Massnahmen verhängen kann. 

Aufgrund der Magglinger Protokolle wurde ein Kulturwandel im Sport gefordert. Ist es schon ein Teil dieses Wandels, dass jemand von aussen hinschaut? 

Ja, und diesen Kulturwandel erachten wir als sehr wichtig. Da sehen wir uns als Puzzleteil in einem grösseren Ganzen, nebst Präventionsarbeit und Aufklärung darüber, welche Richtlinien im Sport gelten und welches Verhalten nicht toleriert wird. Das Ziel dabei ist, dass Athlet*innen in einem Rahmen Sport machen können, der ihnen Schutz vor Übergriffen bietet, so dass auch Eltern die Kinder mit gutem Gewissen ins Training geben können. 

Seht Ihr diese höhere Sensibilität in einem Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Bewegungen wie etwa #MeToo oder Black Lives Matter? 

Absolut. Die Gesellschaft ist generell sensibler geworden, auch für Thematiken rund um die psychische oder die sexuelle Integrität. Jüngere Generationen von Sportler*innen sind bereits anders sozialisiert. Man kann mit ihnen nicht mehr so umgehen, wie es vor 30 oder an manchen Orten auch noch vor 10 Jahren als normal galt. Oftmals zählte im Leistungssport einzig und allein die Leistung, wie es dazu kam interessierte niemanden weiter. Entsprechend wurden dann teilweise auch ethische und moralische Werte über Bord geworfen, um Athlet*innen angeblich erfolgreicher zu machen. Heute wollen wir einen wertvollen Sport, welcher auf der ganzen Linie gesund sein soll und ich bin überzeugt, dass diese Haltung schlussendlich auch zu besseren sportlichen Leistungen führt. 

Welches sind die Themen oder Delikte, die Euch gemeldet werden? 

Gemäss unserer Statistik betreffen 35 Prozent der Meldungen im letzten Jahr die Verletzung der psychischen Integrität durch systematische Beleidigungen, Herabsetzungen, Ausgrenzungen, Verleumdungen oder Anschreien. Das wird auch heute noch oftmals damit verwechselt, jemanden zu härterem Training und besseren Leistungen zu motivieren. Die Täter*innen haben nicht immer Verständnis, wenn wir intervenieren. Bei weiteren 19 Prozent der Meldungen geht es um Verletzungen der sexuellen Integrität. Das Spektrum reicht von sexueller Belästigung, anrüchigen Sprüchen, verschicken von pornographischen Inhalten, bis zu sexuellen Übergriffen. Nebst diesen beiden Hauptbereichen gibt es noch Verletzung der physischen Integrität und Diskriminierung bzw. Ungleichbehandlung, das sind 13 Prozent respektive 10 Prozent der Fälle. 

Grundsätzlich sind Sportarten, in denen Abhängigkeiten bestehen, anfälliger für Machtmissbräuche.

David Zysset

Gibt es Sportbereiche, die besonders anfällig sind für problematische Vorkommnisse? 

Grundsätzlich sind Sportarten, in denen Abhängigkeiten bestehen, anfälliger für Machtmissbräuche. Etwa wenn jemand auf eine Infrastruktur oder auf eine*n bestimmte*n Trainer*in angewiesen ist, um seine Ziele zu erreichen. Bei technisch-kompositorischen Sportarten hängt zudem die Selektion von subjektiven Einschätzungen der Trainer*innen ab. Dazu kommt, dass diese Kinder oft in frühem Alter, mit vier oder fünf Jahren zu trainieren beginnen. Das sind vulnerable Personen, die oft gar nicht einschätzen können, ob ein Trainer einfach streng ist, oder ob ein bestimmtes Verhalten eigentlich nicht korrekt ist. Je nachdem spielen auch noch die Ansprüche von Eltern mit hinein. Manchmal beginnen sie erst später, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. 

Gibt es einen Unterschied zwischen Hobbysport und professionellem Sport?  

Im Hobbysport gibt es deutlich weniger Abhängigkeiten, etwa von guten Trainer*innen oder von Infrastruktur. Wenn es dir nicht passt in einem Verein, dann gehst du einfach. Die meisten Meldungen haben wir aus dem Nachwuchs-Leistungssport.  

Wo sind die Grenzen Eurer Zuständigkeit? 

Diese Grenzen sind im Ethik-Statut festgelegt. Grundsätzlich liegt alles, was ausserhalb von Spiel und Wettkampf passiert, in unserer Zuständigkeit. Was hingegen durch Spiel- und Wettkampfreglemente abdeckt ist, liegt weiterhin in der Verantwortung des betreffenden Verbands. Oft geht es dabei um Fairplay oder unkorrektes Verhalten, etwa wenn ein Hockeyspieler oder auch ein Trainer während dem Spiel jemanden beleidigt. Dann gibt es Grenzfälle, etwa wenn Sachen in der Garderobe passieren. Da sprechen wir uns mit dem Verband ab, wer das übernimmt. Auch für Selektionen sind wir nicht zuständig. Erst dann, wenn es in einem Verband strukturelle Missstände gibt, die Ethikverstösse begünstigen. Etwa wenn ein Verband kein genügendes Selektionskonzept hat und alles völlig intransparent ist, so dass es zu Ungleichbehandlungen kommen kann. 

Wie geht ihr mit Fällen um, die das Strafrecht tangieren? 

Wenn strafrechtsrelevante Sachen an uns herangetragen werden, beraten wir die betroffenen Personen bezüglich einer Anzeige und versuchen, sie beim Entscheidungsprozess zu unterstützen. Falls gewünscht, können wir auch den Kontakt zu einer Opferberatungsstelle herstellen. Die Entscheidung, ob eine Anzeige erstattet wird, obliegt schlussendlich der betroffenen Person. Wenn die Staatsanwaltschaft ein Verfahren eröffnet, sistieren wir unseres in der Regel. 

Gibt es Tatbestände, die zwar nicht als strafrechtlich relevant, aber als unethisch beurteilt werden? 

Ja. Im Ethik-Statut ist genau beschrieben, was eine Verletzung der sexuellen Integrität oder eine Verletzung der psychischen Integrität ist. Das ist aber nicht immer strafrechtlich fassbar. So gesehen sind wir niederschwelliger als das Strafrecht, da wir früher intervieren können. Etwa bei unangemessenen Trainingsmethoden, unerwünschten Handlungen, die Schmerzen auslösen sowie körperliche Nachteile hervorrufen können oder  wenn die psychische Integrität verletzt wird.  

Gibt es auch Meldungen durch Personen, die nicht selbst Opfer sind, sondern etwas miterlebt haben, das sie nicht tolerieren können?  

Das gibt es sehr oft. Das können etwa Eltern sein, Vorstandsmitglieder, Funktionäre, oder andere Trainer*innen. Im Zuge der Magglinger-Protokolle hat sich gezeigt, dass manche Missstände seit langem bekannt waren, aber niemand darüber gesprochen hat. Deshalb wurde eine Meldepflicht eingeführt für Personen, die eine besondere Aufsichts- und Fürsorgefunktion haben im Sport, also Trainer*innen, Betreuer*innen oder Verbands-Funktionär*innen. 

Andere Meldestellen wie etwa die KESB wurden anfänglich stark abgelehnt. Wie ist das bei euch?  

Es gibt nach wie vor kritische Stimmen. Der Sportbereich ist es nicht gewohnt, dass man ihm reinredet. Das löst auch Ängste aus, manche Trainerinnen und Trainer befürchten, anonym angeschwärzt und an den Pranger gestellt zu werden. Da betreiben wir Aufklärung, wie so ein Verfahren abläuft. Uns ist aber klar, dass es bei solchen Neuerungen immer Zeit braucht, um Skepsis abzubauen. 

Wie schätzen Sie selbst den Erfolg der Meldestelle in diesen bisher rund zwei Jahren ein?  

Durch unsere Arbeit ist es bereits zu einigen Urteilen gekommen. Zudem haben wir auch schon verschiedene einvernehmliche Lösungen erzielt. Da geht es oft auch darum, dass eine Trainerin oder ein Trainer etwa eine Weiterbildung oder ein Coaching absolviert. Ich würde sagen, wir sind auf einem guten Weg und haben schon einiges erreicht. 

Was ist Ihr eigener Bezug zum Sport? 

Ich bin mit Sport aufgewachsen und habe selber lange Leistungssport im Bereich Mittel- und Langestreckenlauf gemacht. Das war für mich eine Lebensschule und ich durfte durch den Sport auch tolle Menschen kennen lernen, wo sich Freundschaften bildeten, die bis heute halten. Später habe ich auch als Trainer gearbeitet und verschiedene Trainerausbildungen im Bereich der Leichtathletik absolviert. Als Jugendlicher spielte ich zudem Eishockey. Sport ist für mich eine Herzensangelegenheit, deshalb setze ich mich auch gerne für einen gesunden und wertvollen Sport ein.

DAVID ZYSSET

FH Soziale Arbeit

Stv. Leiter Meldestelle Ethik, Swiss Sport Integrity


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