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Verzicht auf Sozialhilfe aus Angst vor Landesverweis

24.03.2022 - 3 Min. Lesezeit

Migrationsarbeit
Sozialhilfe
Portrait von Martin Heiniger

Martin Heiniger

Fachredaktion Sozialinfo

Seit Inkrafttreten des revidierten Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) 2019 können Ausländer*innen ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz verlieren, wenn sie sozialhilfeabhängig werden. Aus Angst verzichten manche Betroffenen auf Sozialhilfeleistungen und nehmen grosse Armutsrisiken in Kauf.

Das neue Ausländer- und Integrationsgesetz

Anfang 2019 trat das neue Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG, vormals Ausländergesetz AuG) in Kraft. Geändert wurden unter anderem integrationsrechtliche Aspekte. Die höher gewichteten Integrationskriterien zur Erteilung der Niederlassungsbewilligung sollten einen stärkeren Anreiz für die Migrant*innen schaffen, sich um Integration zu bemühen.

In der Praxis erweist sich das Gesetz als Hebel eines sehr restriktiven Umgangs mit Aufenthaltsrechten. Zur Erlangung eines C-Ausweises sind etwa hohe Sprachkompetenzen nachzuweisen. Wie hoch die Hürde angelegt ist, hat die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) anhand des Falles eines polnischen Ehepaars dokumentiert.

Verlust des Bleiberechts wegen Sozialhilfebezug

Mit dem seit 2019 geltenden revidierten Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) ist das Bleiberecht für Ausländer*innen deutlich brüchiger geworden. Das Gesetz vereinfacht es zum einen den Behörden deutlich, eine Aufenthaltsbewilligung (B) zu widerrufen. Zum anderen wurde neu die Möglichkeit geschaffen, eine bestehende Niederlassungsbewilligung (C) nicht mehr nur aus gravierenden Gründen wie Straffälligkeit oder Verstössen gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung, sondern auch bei Sozialhilfeabhängigkeit entziehen zu können (AIG, Art. 63). Dies gilt, wenn jemand „dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen“ ist, jedoch unabhängig davon, wie lange die Person schon in der Schweiz lebt oder ob sie hier geboren wurde.

Die Möglichkeit der Rückstufung der Niederlassungsbewilligung (C) zur Aufenthaltsbewilligung (B) ist für Betroffene eine einschneidende Änderung, denn diese ist jeweils nur für ein Jahr gültig. Kann die Person ihre Situation in dieser Zeit nicht verbessern, etwa indem sie wieder eine Arbeitsstelle findet und finanziell unabhängig wird, kann ihr die Behörde auch die Aufenthaltsbewilligung entziehen und sie ausweisen. Damit entfällt die mit der Niederlassungsbewilligung bisher verbundene Sicherheit eines unbeschränkten Aufenthaltsrechts.

Auch für Niedergelassene, die sich um eine Einbürgerung bemühen, ist eine Rückstufung ein grosser Einschnitt. Um nach einer Rückstufung wieder eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten, dürfen sie während fünf Jahren keine Sozialhilfe beziehen. Eine Einbürgerung rückt damit in weite Ferne.

Allianz von 80 Organisationen gegen Verschärfungen des Bleiberechts

Unter dem Slogan „Armut ist kein Verbrechen“ haben sich bislang 80 Organisationen zusammengeschlossen, um diese Verschärfungen zu bekämpfen. Mit einem offenen Brief an den Nationalrat unterstützt die Allianz eine parlamentarische Initiative, die Nationalrätin Samira Marti eingereicht hat. Marti verlangt, dass bei Menschen ausländischer Herkunft, die lange in der Schweiz leben, keine Rückstufungen gemacht werden dürfen: „Nach über 10 Jahren in der Schweiz sollte es Ausländerinnen und Ausländer möglich sein, unverschuldet Sozialhilfe zu beziehen, ohne direkt mit einer Wegweisung konfrontiert zu sein.“

Der offene Brief kann auf der Kampagnenseite der Allianz „Armut ist kein Verbrechen“ unterzeichnet werden.

Die Verschuldensfrage beim Sozialhilfebezug

Problematisch ist diese Praxis auch hinsichtlich der Frage des Verschuldens. Für gesundheitlich angeschlagene Personen, deren Leiden von der Invalidenversicherung nicht anerkannt wird, ist es schwierig, eine ihren Möglichkeiten angepasste Tätigkeit zu finden. Ihnen bleibt meist nichts anderes übrig, als Sozialhilfe zu beziehen, sobald sie keine Leistungen der Arbeitslosenkasse mehr erhalten. Die Migrationsbehörden werten solche Fälle dann oft als verschuldeten Sozialhilfebezug, ohne zu berücksichtigen, dass es im Arbeitsmarkt an geeigneten Stellen fehlt.

Menschen ausländischer Herkunft arbeiten überdurchschnittlich häufig in prekären Arbeitsverhältnissen oder in Branchen mit hohen gesundheitlichen Risiken, wie etwa dem Baugewerbe. Für sie kann das auch nach jahrelangem beruflichem Engagement bedeuten, dass sie ihre Aufenthaltsrechte verlieren können, sobald sie nicht mehr hundertprozentig Arbeitsfähig sind. Die Coronakrise dürfte dieses Problem noch zusätzlich verschärft  haben.

 

Verzicht auf Sozialhilfebezug aus Angst

Für Ausländer*innen kann der Sozialhilfebezug mit dem revidierten AIG zu einer existenziellen Frage werden. Fachpersonen und Hilfsorganisationen vermuteten schon länger, dass Betroffene aus Angst um ihr Bleiberecht zunehmend darauf verzichten, Sozialhilfeleistungen in Anspruch zu nehmen.

Eine Studie des Büros BASS belegt nun diesen Zusammenhang. Die Untersuchung im Auftrag der «Charta Sozialhilfe Schweiz» und der Eidgenössischen Migrationskommission EKM belegt, dass manche Ausländer*innen aus Angst um ihren Aufenthaltsstatus keine Sozialhilfe beanspruchen. Dadurch fallen gerade auch Familien mit Kindern unter die Armutsgrenze. Aus sozialarbeiterischer Sicht ist dies brisant, da Armut erwiesenermassen das Risiko für sozialen Ausschluss signifikant erhöht. Dies wirft ein schlechtes Licht auf das AIG. Ebenso ist es kein gutes Zeichen, dass zunehmend private und kirchliche Hilfswerke in die Bresche springen müssen, um die Existenz dieser Menschen abzusichern

Die Studie zeigt ausserdem auf, dass es generell an statistischen Daten über die sozialen Auswirkungen der Verschärfungen im Ausländerrecht mangelt. Die Charta Sozialhilfe Schweiz fordert daher, dass politische Entscheide, die für manche Personengruppen einschneidende Folgen haben, stärker faktenbasiert gefällt und auch hinsichtlich ihrer Wirkung evaluiert werden müssen.

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Martin Heiniger

Statistiken zufolge war die Sozialhilfequote von Ausländer*innen in den vergangenen Jahren rückläufig. Eine aktuelle Studie des Büro BASS zeigt jedoch, dass dieser Rückgang nur teilweise durch eine steigende Erwerbsintegration erklärt werden kann.

Seit der Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) im Jahr 2019 ist für Ausländer*innen mit der Sozialhilfeabhängigkeit das Risiko verbunden, ihr Bleiberecht zu verlieren. Um sich nicht dieser Gefahr auszusetzen, verzichten manche auf den Bezug von Sozialhilfe und nehmen damit beträchtliche Armutsrisiken in Kauf.

Im Februar 2021 hatte die Allianz «Armut ist kein Verbrechen» bereits darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem revidierten AIG das Grundrecht auf Unterstützung in der Not für Menschen, die keinen Schweizer Pass besitzen, ausgehebelt wird. Der Zusammenhang zum Nichtbezug von Sozialhilfe, damals bereits befürchtet, wurde nun erhärtet.