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Sichere Träume für obdachlose Jugendliche

21.02.2022 - 10 Min. Lesezeit

Obdach / Wohnintegration
Jugendarbeit
Portrait von Martin Heiniger

Martin Heiniger

Fachredaktion Sozialinfo

In Bern finden Jugendliche ab 14 Jahren in prekären Wohn- und Lebenssituationen künftig Unterschlupf. Damit schliesst der Verein «Rêves sûrs» eine Lücke im Notschlaf-Angebot der Stadt. Mit dem Projekt wollen die Gründer*innen auch grundsätzliche Diskussionen anstossen. Im Interview geben zwei Projektmitarbeitende Auskunft über die Hintergründe.

In der Stadt Bern gibt es für obdachlose Jugendliche bislang keine Möglichkeit, einen sicheren Unterschlupf zu finden. Ab 18 Jahren können sie zwar eine Notschlafstelle für Erwachsene aufsuchen, aber diese Angebote tragen den spezifischen Bedürfnissen Jugendlicher kaum Rechnung.

Um diese Angebots-Lücke zu schliessen, eröffnet der Verein «Rêves sûrs» kommenden April ein Notschlafangebot für Jugendliche und junge Erwachsene.


Interview mit Eva Gammenthaler und Robert Sans, Verein «Rêves sûrs»

Sozialinfo/Martin Heiniger: An welche Personen richtet sich Euer Angebot?

Robert Sans: Es geht um junge Menschen zwischen 14 und 23 Jahren in prekären Wohn- oder Lebenssituationen. Das kann natürlich verschiedene Ursachen haben, das können Übergangssituationen sein von psychiatrischen Settings oder vom Leben auf der Strasse in stationäre Angebote. Es können auch Personen sein, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, die Fluchterfahrung mitbringen, oder auch einfach solche, die aus irgendwelchen Gründen ihre Wohnung verloren haben.

Eva Gammenthaler: Oder auch Personen in psychosozialen Krisen. Wir rechnen zudem damit, dass junge Menschen die Notschlafstelle aufsuchen werden, die «auf Kurve» sind, d.h. die aufgrund von Konfliktsituationen von einer Institution weggegangen sind. Solche Personen sind manchmal zwei oder drei Monate auf der Strasse unterwegs, ohne dass jemand genau weiss, wo sie sind. Das ist ein bekanntes Problem.

Hat das auch explorativen Charakter: Ihr öffnet mal und seht, was für Personen da kommen?

Eva Gammenthaler: Ja, das wird sich zeigen. Es wird wohl eine grosse Bandbreite an Leuten sein, die das Angebot aufsuchen werden. Der gemeinsame Nenner ist die prekäre Wohn- und Lebenssituation. Bei unseren Annahmen stützen wir uns auf die Erfahrungen von Personen aus dem Jugend- und dem Obdachlosenbereich, die bei uns im Vorstand sind, die in ihrer täglichen Arbeit solche jungen Menschen antreffen.

Wie unterscheidet sich Euer geplantes Angebot von einer Notschlafstelle für Erwachsene?

Eva Gammenthaler: Zum einen sicher durch die spezifische Zielgruppe. Wir bieten für Personen unter 18 etwas an, was keine andere Notschlafstelle abdeckt, zumindest im Raum Bern nicht. Zum anderen wollen wir eine möglichst niederschwellig zugängliche Notschlafstelle sein, was uns ebenfalls unterscheiden wird von bestehenden stationären Angeboten in der Jugendhilfe. Das bedeutet, dass es keine Zuweisung braucht, dass das Angebot gratis ist und dass es freiwillig aufgesucht werden kann.

Robert Sans: Ein entscheidender Punkt ist auch, dass wir soziale Beratung anbieten werden, und die Adressat*innen näher und enger begleiten können als andere Angebote. Durch die Vernetzung mit bestehenden Institutionen können wir zudem Anschlusslösungen vermitteln.

Die Trägerschaft von Rêves sûrs

Der Verein «Rêves sûrs – Sichere Träume» ist eine Kooperation aus Fachpersonen im Jugend und Obdachlosenbereich, welche die Problematik Jugendlicher und junger Erwachsener in prekären Wohn und Lebenssituationen kennen. Der Verein wird von verschiedenen Stiftungen, kirchlichen Einrichtungen und Privaten finanziell unterstützt.

Im Dezember hat der Verein mit einem gross angelegten Crowdfunding mit mehr als 700 Spender*innen über 70`000 CHF generiert.

Ihr sprecht von Anwaltschaftlichkeit. Könnt ihr zur Funktion und Rolle der Sozialarbeitenden vor Ort mehr sagen?

Robert Sans: Das ist ein Schlüsselbegriff in dieser ganzen Arbeit, und zwar geht es darum, dass wir unser Handeln am ausgesprochenen Interesse der Adressat*innen ausrichten. Grenzen setzen dabei natürlich die gesetzlichen Rahmenbedingungen, das ist klar. Wir können nicht jeden ausgesprochenen Wunsch umsetzen. Aber es geht uns darum, dass diese Personengruppe Gehör findet und dass ihre Interessen vertreten werden.

Eva Gammenthaler: Das Bekenntnis zur Anwaltschaftlichkeit und zur Parteilichkeit unterscheidet uns auch von anderen Institutionen. Erfahrungswerte zeigen, dass oft nachhaltigere Lösungen gefunden werden können, wenn man im Interesse und «im Auftrag» der betroffenen Person arbeitet, und nicht im Auftrag von Drittstellen.

« Anwaltschaftlichkeit ist ein Schlüsselbegriff in dieser ganzen Arbeit. »

Robert Sans

Am Telefon sagtest du, Robert, Ihr seid weniger ans Tripelmandat gebunden. Was heisst das genau?

Robert Sans: Das Doppelmandat beschreibt den Auftrag an die Soziale Arbeit von Seite Klient*innen und von Seite des Staates. Dies kann aus Sicht einer Adressat*in durchaus problematisch wahrgenommen werden und zu einer eingeschränkten Kooperation führen. Nämlich dann, wenn dem Auftrag von gesellschaftlicher/staatlicher Seite her grösseres Gewicht zugesprochen wird und dadurch die Interessen der Adressat*in kaum noch zum Tragen kommen. Dies kommt unter anderem dann vor, wenn eine betroffene Person alternative Lebensentwürfe verfolgt und das von gesellschaftlicher oder staatlicher Seite her als nicht legitim beurteilt wird. Aus professioneller Sicht, und da wären wir beim Tripelmandat, haben wir dann aber den klaren Auftrag die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession zu sehen und dementsprechend zu handeln. Also Menschenrechte auch unter dem Diversity-Aspekt in den Vordergrund zu stellen und dafür zu sorgen, dass diese wahrgenommen werden können. Dadurch, dass wir uns in den ersten drei Jahren der Pilotphase hauptsächlich über Stiftungsgelder, private Spenden und kirchliche Einrichtungen finanzieren, haben wir dort etwas mehr Spielraum als andere Institutionen, die etwa einen klaren Erziehungsauftrag haben. Das heisst nicht, dass wir nicht kooperieren, aber dass wir ganz offen die Position unserer Adressat*innen vertreten.

Eva Gammenthaler: Ich denke, in den meisten Kontexten der Sozialen Arbeit schwingt das Pendel des Tripelmandats tendenziell eher zwischen dem staatlichen Auftrag und der Profession. Der Seite der Adressat*innen wird häufig weniger Gewicht geben. Wir wollen dem mit unseren Arbeitsgrundsätzen mehr Gewicht geben und als Sozialarbeitende eine klare Position einnehmen.

Robert Sans: Ein weiterer wichtiger Punkt unserer Arbeitsgrundsätze ist die akzeptierende Grundhaltung. Wir gehen davon aus, dass wir in Situationen, die krisenbehaftet sind, nicht vordergründig eine pädagogische Rolle einnehmen, sondern akzeptierend arbeiten. Das heisst, dass wir Adressat*innen, ihr Verhalten und ihre Entscheidungen nicht be- oder verurteilen, was eine komplett andere Grundlage für eine Kooperation bietet und somit eingespielte Muster durchbrechen kann. Das hat natürlich auch Grenzen, etwa bei Selbst- oder Fremdgefährdung. Sonst könnten wir unser Ziel, einen Schutzraum zu bieten, in dem sich alle sicher und wohl fühlen können, nicht erreichen.


« Wenn man von Niederschwelligkeit spricht, dann heisst das nicht, dass es keine Schwellen gibt. »

Eva Gammenthaler

Gerade bei minderjährigen Adressat*innen gibt es ja auch rechtliche Fragestellungen. So haben Minderjährige nicht das Recht, über ihren Aufenthalt zu entscheiden, sondern die Eltern, bzw. obhutsberechtigten Personen. Wie legalisiert Ihr den Aufenthalt?

Robert Sans: Das war ein ganz wichtiger Punkt bei der Konzeptarbeit. Wir mussten klären, ob wir unter den bestehenden Rahmenbedingungen niederschwellig arbeiten können. Wenn wir sofort bei Eintritt die Eltern, die KESB, oder das Jugendheim informieren müssten, dann würde das wahrscheinlich viele Personen abschrecken. Es braucht hier eine Art Güterabwägung. Eine Übernachtung draussen in unsicheren Verhältnissen ist grundsätzlich eine Gefährdung. Dieser können wir mit einer Übernachtung bei uns Abhilfe schaffen. Wenn nun eine minderjährige Person sagt, dass sie das Angebot wieder verlässt und sich damit weiterhin einer Gefährdung aussetzt, wenn sofort eine Meldung gemacht wird, dann brauchen wir hier einen Spielraum. Das entbindet uns natürlich nicht von einer Meldepflicht, gegenüber den obhutsberechtigten Personen oder der KESB. Aber wir wollen hier die Adressat*in miteinbeziehen und mit ihr zusammen klären: «wo stehen wir, wo sollen, können oder müssen wir anrufen?». Wir werden nichts hinter ihrem Rücken machen, und auch die geltenden Rahmenbedingungen transparent machen. Spätestens nach der zweiten Nacht müssen jedoch die obhutsberechtigten Personen informiert werden.

Eva Gammenthaler: Ich möchte noch ergänzen, dass das eine juristisch gültige Auslegung der Meldepflicht ist. Die Formulierung «der Gefährdungssituation Abhilfe schaffen» ermöglicht einen gewissen Spielraum in der Meldepflicht. Das haben wir mit der zuständigen Behörde abgeklärt und festgelegt. Deshalb gehen wir davon aus, dass wir in einem solchen Fall auch die Unterstützung der Behörde erhalten würden.

Angenommen, es kommt hart auf hart und Eltern machen eine Anzeige. Gibt es auf der Ebene des Rechts eine Absicherung?

Robert Sans: Die Erfahrung von bestehenden Angeboten zeigt, dass das sehr selten ein Problem ist. Trotzdem haben wir das juristisch abgeklärt. Zum einen würde sich ja die Frage stellen, was im Herkunftssystem los ist und wieso das Kind überhaupt ein Notschlafangebot in Anspruch nimmt. Zum anderen wird dem mittlerweile auch ein grosses Gewicht zugemessen, wenn ein 16-jähriger Jugendlicher ein absolut dringliches Bedürfnis formuliert, nicht mehr nach Hause zu wollen. Je älter die Person wird, desto stärker wird ihr auch ein Recht auf eine eigene Haltung, einen eigenen Standpunkt zugestanden.

Wie seid Ihr behördlich und institutionell vernetzt?

Robert Sans: Als es darum ging, die Bewilligungspflicht und die Meldepflicht zu klären, haben wir dem Kantonalen Jugendamt unsere Konzeptskizze vorgelegt. Da wir unter die Kategorie Notschlafstelle fallen, werden wir verschiedene Auflagen nicht erfüllen müssen, die vor allem im Rahmen der Pflegekinderverordnung bestehen. Das ermöglicht uns, ganz niederschwellig zu arbeiten. Das meiste erfüllen wir trotzdem, weil wir uns daran orientieren. Das Kantonale Jugendamt hat diese Bewilligungspflicht zusammen mit der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion GSI abgeklärt. Das sind für uns wichtige Stakeholder. Und natürlich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB.

Eva Gammenthaler: Ich würde auch die Kantonspolizei noch nennen. Und dann gibt es natürlich viele Institutionen im Sozialbereich, alle die Angebote im Heimbereich, im begleiteten und betreuten Wohnen für junge Menschen, aber auch die offene Jugendarbeit, die Gassenarbeit, die bestehenden Notschlafstellen oder auch der Sozialdienst. Das ist ein recht grosses Vernetzungsgeflecht.

« Wir gehen schon jetzt auf die Sozialdienste zu, um ihnen aufzuzeigen, dass sie auch Folgekosten sparen, wenn sie uns finanzieren. »

Eva Gammenthaler

Wie ist das Projekt finanziert?

Robert Sans: Wir finanzieren einen grossen Teil des dreijährigen Pilotprojektes über Stiftungsgelder und Gelder kirchlicher Einrichtungen. Zudem wird ein Teil durch Eigenleistungen abgedeckt. Der ganze Vorstand arbeitet viele Stunden freiwillig. Dann haben wir einen Einrichtungssponsor, der die ganze Einrichtung zur Verfügung stellt. Es ist also nicht so, dass wir die Sachen zusammensuchen müssen, sondern es hat einen gewissen Standard. Ausserdem werden wir Rechnungen an die zuständigen Sozialdienste der Adressat*innen stellen, womit eine Beteiligung der öffentlichen Hand angestrebt wird.

Das heisst, Ihr kriegt eine Entschädigung pro Übernachtung?

Eva Gammenthaler: Das werden wir so machen wie das Nemo in Zürich, das einzige vergleichbare Angebot in der Schweiz. Das heisst, wir werden bei Übernachtungen Rechnung an die Sozialdienste der jeweiligen Herkunftsgemeinden der Jugendlichen und jungen Erwachsenen stellen. Darauf sind wir angewiesen, haben aber, da wir keine Kostengutsprachen haben werden, keine rechtliche Grundlage dafür. Wir gehen aber davon aus, dass die Sozialdienste die Leistung, die wir erbringen, anerkennen. Schlussendlich werden wir oft ein Übergangsangebot in ein stationäres Angebot sein, daher gehen wir davon aus, dass die Sozialdienste uns das auch bezahlen werden.

Aber das bleibt ein Unsicherheitsfaktor?

Eva Gammenthaler: Ja, diese Unsicherheit bereitet uns auch noch etwas Stress. Wir haben uns beim Budgetieren auf die Erfahrungen aus Zürich abgestützt. Aber es steht in den Sternen, ob das klappen wird. Aber auch hier ist die Vernetzung wichtig. Wir gehen schon jetzt auf die Sozialdienste zu, um ihnen aufzuzeigen, dass sie auch Folgekosten sparen, wenn sie uns finanzieren. Ich bin da sehr zuversichtlich.

Standort und Ausstattung

Die Notschlafstelle für junge Menschen in Bern wird im Frühjahr 2022 in der städtischen Liegenschaft an der Studerstrasse 44 in 3004 Bern eröffnet werden. Sie ist im Moment für 6 Personen konzipiert. Grösstenteils werden den Adressat*innen Einzelzimmer zur Verfügung stehen. Durch Notbetten kann die Kapazität auf 7 - 8 Plätze erhöht werden.

Die Notschlafstelle soll Überlebenshilfe bieten, d.h. einen Schutzraum, einen Schlafplatz, Verpflegung, saubere Kleidung, Hygienematerial und medizinische Grundversorgung. Diese basale Versorgung soll durch Beratung ergänzt werden, sodass Notsituationen möglichst kurz dauern und die betreffende Person und ihre Situation stabilisiert werden kann.

Pro Nacht werden jeweils zwei Personen vor Ort sein; davon mindestens eine Fachperson aus dem psychosozialen oder dem Pflege-Bereich. Zurzeit läuft die Rekrutierung von Fachpersonen.

Gibt es einen spezifischen Grund für die Altersgrenze 23, oder ist das eher ein Erfahrungswert?

Robert Sans: In der Vernetzung mit dem Nemo Zürich kam das gleich zu Beginn zur Sprache. Sie haben anfänglich ihre Altersgrenze einige Male nach oben oder nach unten angepasst, und in den über 10 Jahren Erfahrung sind sie mit der Altersgrenze 16-23 sehr gut gefahren. Da das eine relativ hohe Altersspanne ist, müssen wir schauen, ob wir den Schutzraum so für alle Beteiligten gewährleisten können. Wenn nicht, müssten wir das anpassen. Aber die Erfahrung zeigt, dass es so nicht schlecht funktioniert.

Eva Gammenthaler: In der Praxis würde man wohl auch einen 24-Jährigen nicht einfach fortschicken, dort muss man sicher eine gewisse Flexibilität zeigen.

Vom Alter her gibt es ja eine Überschneidung mit bestehenden Notschlafstellen, die Personen ab 18 Jahren aufnehmen.

Eva Gammenthaler: Wir wollen sicher nicht ein Konkurrenzangebot darstellen. Aber zum einen sind aus meiner Sicht bestehende Notschlafstellen nicht geeignet für eine so junge Zielgruppe. Dies sowohl vom Aufbau her, mit Mehrbettzimmern, hoher Auslastung, als auch mit der grossen Diversität an Zielgruppen und Problemstellungen, die sich auf einem engen Raum wiederfinden. Und zum anderen haben wir mit dem Beratungsangebot das Ziel, mehr zu bieten als die bestehenden Notschlafstellen. Aber das soll sicher kein Konkurrenzangebot sein und ich würde aus meinem Berufsalltag behaupten, dass das auch nicht so wahrgenommen wird. Die beiden Notschlafstellen in der Stadt Bern sind sehr gut ausgelastet, und ich glaube die sind froh, wenn sie junge Leute triagieren können, die bei ihnen nicht so gut aufgehoben sind.

Wie oft kann eine Person einen Schlafplatz beanspruchen? Ist es begrenzt?

Eva Gammenthaler: Einziehen kann man nicht. Es ist nicht so, dass man ein Zimmer beziehen kann, und bleiben und sich dort wohnlich einrichten könnte. Man kommt am Abend, zieht sein Bett an, und muss es am Morgen wieder abziehen. Es ist ein Notschlafen. Als Annahme haben wir eine maximale Dauer von drei Monaten festgelegt, wir gehen aber davon aus, dass es eher kurzfristige Übernachtungen sein werden. Aber wenn dann jemand nach drei Monaten noch keine Anschlusslösung gefunden hat, dann sind Verlängerungen auf Antrag möglich.

« Wir hoffen, dass wir mit unserem Angebot etwas Bewegung in den ganzen Diskurs der Jugendhilfe reinbringen. »

Robert Sans

Was sind Eure Hoffnungen in Bezug auf das Projekt? Welches sind die Befürchtungen?

Robert Sans: Hoffnungen sind natürlich zum einen, dass das Projekt positiv aufgenommen wird, dass wir die Adressat*innen erreichen und dass es längerfristig tragbar wird. Zum anderen hoffen wir, dass wir mit einem Angebot, das es in dieser Art noch nicht gibt, etwas Bewegung in den ganzen Diskurs der Jugendhilfe reinbringen. Wir wünschen uns, dass man mehr über Freiwilligkeit spricht, d.h. über intrinsisch motivierte Veränderungen. Wir möchten mit dem Projekt auch bewirken, dass ein grösseres Bewusstsein für das Machtgefälle entsteht, das es in der Sozialen Arbeit gibt. In der Jugendhilfe betrifft das zum Beispiel die Rolle von Beiständ*innen und anderen Bezugspersonen gegenüber den Klient*innen. Wir finden es wichtig, dass die Soziale Arbeit sich selbst und ihre Angebote immer wieder in Frage stellt, z.B. ob es richtig ist, junge Menschen in Institutionen mit starren Regelwerken unterzubringen, in dem sich einige von ihnen nicht bewegen können. Wir sehen es auch als unsere Aufgabe, uns in diesen Diskurs einzubringen. Eine Befürchtung ist natürlich dass wir finanziell an den Anschlag kommen.

Eva Gammenthaler: Ich hätte doch zuerst antworten sollen (lacht)….Wenn ich mir überlege, wie wir angefangen haben 2019, habe ich immer wieder so Momente, wo ich denke, wow, wir haben es so weit geschafft, von dem Moment wo wir gesagt haben, wir sind in Not, wir müssen etwas machen. Und jetzt sind wir hier, haben ein Haus und die Eröffnung ist in Aussicht. Diese Entwicklung motiviert mich sehr, und meine Hoffnung für die Zukunft ist, dass es so weitergeht, mit diesem Rückenwind, den wir von so vielen unterschiedlichen Seiten erhalten. Einen Diskurs anzustossen finde ich auch ganz wichtig. Ich habe das Privileg, in einem Kontext arbeiten zu dürfen, wo ich nach den Grundsätzen der Anwaltschaftlichkeit und Freiwilligkeit arbeiten kann. Aus dieser Sicht ist das die Arbeitsweise, die in der Sozialen Arbeit gelebt werden sollte. Und ich finde es schön, dass wir durch unser Angebot diesen Diskurs anregen können. Sorgen macht mir manchmal die Frage, ob wir es schaffen, diese drei Jahre zu finanzieren. Was machen wir, wenn drei Monate niemand kommt, oder wenn niemand diese Tagessätze bezahlen will? Das sind Sachen, die mich manchmal etwas zittern lassen. Aber wir sind mit der Grundhaltung gestartet, "wir machen das jetzt und wir schaffen das irgendwie". Dann schiebe ich meine Ängste jeweils wieder etwas in den Hintergrund, und sage mir, "das braucht es und wir kriegen viel Unterstützung von so vielen verschiedenen Seiten, irgendwie wird es schon funktionieren".

Gibt es nebst dem Rückenwind auch kritische Stimmen?

Robert Sans: Ein kritisches Statement war beispielsweise, dass es das Angebot zwar brauche, aber wir nicht die Richtigen dafür seien. Es sei besser, wenn das eine bestehende Institution, ein Jugendheim etwa, anbiete. Das wurde jedoch zu Beginn evaluiert, mit dem Resultat, dass es ein unabhängiges Angebot braucht. Andernfalls würden Personen, die mit dem betreffenden Heim bereits zu tun hatten, es womöglich nicht nutzen.

Eva Gammenthaler: Was wir oft gehört haben, ist, dass der Bedarf in Frage gestellt wird, weil wir ihn nicht belegen können. Die Politik braucht halt Zahlen, die einen Bedarf belegen, bevor ein neues Projekt überhaupt starten kann. Und dann ist auch oft Unwissen im Spiel. Manche Leute denken, wir wollen einfach Unterschlupf bieten und keine Meldung machen und damit gegen die gesetzlichen Vorschriften verstossen. Das sind so die kritischen Stimmen, aber das waren erst wenige bisher. Der Rückenwind ist stärker als der Gegenwind. Aber spätestens dann, wenn es darum ginge, städtische oder kantonale Gelder zu bekommen, wäre es dann noch eine ganz andere Diskussion oder eine andere Arena, in der man diskutieren würde. Dann gäbe es sicher noch mehr Kritik. Aber dem können wir jetzt auch etwas entkommen.

Durch die Pilotphase könnt Ihr den «Proof of Concept» erbringen...

Eva Gammenthaler: Genau, das ist unsere Strategie. Deshalb machen wir eine dreijährige Pilotphase, und hoffen, dass uns das genug Argumente gibt, um dieses Angebot längerfristig zu sichern kann.

Robert Sans: Wir werden innerhalb der dreijährigen Pilotphase auch eine Bedarfsanalyse durchführen lassen. Die Datenerhebung wird momentan zusammen mit einer Gruppe Studierender und einer Lehrperson im Freiform-Studiengang der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW organisiert. Die Auswertung soll dann im Rahmen einer Masterthesis der Sozialen Arbeit stattfinden. So werden wir spätestens am Ende der drei Jahre über den Bedarf am Angebot Aussagen machen können.

Robert Sans

Projektkoordinator «Rêves sûrs»

Sozialpädagoge HF

Eva Gammenthaler

Teammitarbeiterin «Rêves sûrs»

MSc Politikwissenschaften Kirchliche Gassenarbeit Bern

Autor*in

Portrait von Martin Heiniger

Martin Heiniger

Auch wenn sie kaum sichtbar sind: Jugendliche und junge Erwachsene, die vorübergehend auf der Strasse leben, gibt es auch bei uns. Für Fachpersonen aus der Jugendarbeit und der Obdachlosenhilfe ist deshalb klar, dass es spezifische Notschlafangebote für unter 25-jährige unbedingt braucht. Zum Beispiel jenes, das der Verein «Rêves sûrs» demnächst in Bern eröffnet.

Die Gründe, weshalb junge Menschen auf der Strasse landen, sind mannigfaltig. Oft spielen Konflikte mit Erwachsenen, seien es die Eltern oder professionelle Bezugspersonen, eine Rolle. Die jungen Menschen erleben in diesen Konflikten oft ein für sie bedrohliches Machtgefälle.

Die Gründer*innen von «Rêves sûrs» sind deshalb überzeugt, dass für diese Arbeit eine von Anwaltschaftlichkeit und Parteilichkeit geprägte Haltung unabdingbar ist, damit ihre Adressat*innen sich sicher genug fühlen können, um das Angebot überhaupt zu nutzen. 

Im Interview mit zwei Mitarbeitenden erfahren Sie mehr zu diesem spannenden Projekt.