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Sharing Experience - über den Einbezug der Betroffenenperspektive in die professionelle Soziale Arbeit

Juni 2021

Vermehrt nutzen Organisationen die Betroffenenperspektive, um Menschen in bestimmten Situationen zu unterstützen. Warum tun sie das? Weil es wirkt!

Begegnung auf Augenhöhe

Peer-Support ist ein Sammelbegriff für verschiedene Unterstützungsformen, die im eigentlichen Sinn unter Gleichgestellten erbracht werden. Gleichgestellt kann am ehesten übersetzen, was peer meint: Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen können, die derselben Gruppe angehören. Die Unterstützung wird dann nicht - oder nicht nur - aus einer Fachperspektive, sondern aus einer Betroffenenperspektive erbracht: die Helfenden wissen aus eigener Erfahrung, welche Herausforderungen die zu begleiteten oder zu unterstützenden Menschen zu meistern haben. Mario Ferranti nennt diese Fähigkeit Betroffenenkompetenz und schreibt dazu: „Unter Betroffenenkompetenz ist zunächst die Idee zu verstehen, dass jemandem eine Eignung zu helfen oder Rat zu erteilen erwächst, weil er das Problem oder den Konflikt des Hilfe- oder Ratsuchenden aus eigenem Erleben kennt.“ (In: Soziale Selbsthilfe. Alternative, Ergänzung oder Methode sozialer Arbeit?, Heidelberg, 1999).

Dass dies – und wie dies funktioniert, wird nachfolgend am Beispiel einer Peer Beratung aufgezeigt. Betroffenenkompetenz wird aber auch in weiteren Gebieten der Sozialen Arbeit professionell genutzt. Ein populäres und bewährtes Beispiel die Ex-In Bewegung: Menschen mit Psychiatrieerfahrung werden so begleitet und befähigt, dass sie ihre reflektierten Erfahrungen in diesem Bereich zur Unterstützung anderer einsetzen können. Aktuell fliesst Betroffenenkompetenz auch immer mehr in die Organisationsentwicklung ein. Organisationen lernen im Zuge der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention von Menschen mit Behinderungen einerseits, was sie zu beachten haben, wenn sie Menschen mit Behinderungen als Arbeitskräfte rekrutieren wollen. Andererseits werden die Kompetenzen, die sich aus Betroffenensicht ergeben, durch komparative Fähigkeiten ergänzt, die sich aus der täglichen Bewältigung der zu meisternden Hindernisse ergeben. Die Fähigkeit, unerwartete Hindernisse sehr rasch zu kompensieren und zielorientiert Alternativen zu suchen, kann die Innovationsstärke von Unternehmen verbessern. Ein Akteur aus diesem Anwendungsgebiet ist der Verein Sensability, der sowohl Peer- als auch Partizipationsangebote anbietet um die Kompetenzen von Menschen mit Behinderungen zu erschliessen und nutzbar zu machen.

Was in der Normgesellschaft oft als Behinderung gilt – und von den Betroffen als solche erlebt wird, ist im Sinne von Betroffenenkompetenz eine wertvolle Ressource, die von der professionellen Sozialen Arbeit auf vielfältige Weise genutzt werden kann.

Jugendliche beraten Jugendliche

Betroffenenkompetenz ist denn auch die Grundlage von Peer-Beratungsformaten, wie etwa dem Peer-Chat Chat mit Gleichaltrigen von Pro Juventute. Seit April 2018 sind dort junge Menschen immer montags und dienstags online, um sich den Fragen und Sorgen von Gleichaltrigen anzunehmen. Was steckt dahinter?

Zunächst einmal steckt dahinter das Bekenntnis zum Grundsatz „Nothing about us without us“. Sinngemäss übersetzt heisst dies, dass Pro Juventute die Zielgruppen ihrer Programme in deren Entwicklung und Umsetzung einbezieht. Dieser partizipative Ansatz soll der Stiftung helfen, passender zu handeln und dadurch möglichst viel Wirkung zu erzielen. Für Chat mit Gleichaltrigen bedeutet dies konkret, dass die beteiligten Jugendlichen mitbestimmen, wie das Beratungsformat ausgestaltet wird. Sie bringen sich aktiv in die Diskussion über die nötigen Grundlagen und passenden Rahmenbedingungen der Peer-Beratung ein und bestimmen selber mit, welche zeitliche und emotionale Belastung sie tragen können, welche fachliche Begleitung sie dafür benötigen und welchen Einfluss ihre Tätigkeit auf sie selber und ihre persönliche Weiterentwicklung hat. Gleichzeitig bringen sie ihre Erfahrung in die Diskussion darüber ein, was ihren Peers hilft und wie diese am besten zu erreichen sind.

Professionelle und Peer-Beratung ergänzen sich

Weiter steht dahinter die Erkenntnis, dass Peer-Beratung und Profi-Beratung unterschiedliche Wirkmechanismen zu Grunde liegen und mit dem Einbezug der Betroffenenperspektive das Spektrum der Beratungsarbeit von Pro Juventute erweitert werden kann. Es geht nicht darum, den einen Ansatz über den andern zu stellen, sondern darum, durch das Nebeneinander mehr Breite zu erhalten, also die Vielfalt der Möglichkeiten auszubauen. Die Begriffe beraterische Präsenz, Beziehungsgestaltung, Anregung zur Selbstexploration, Ressourcenaktivierung und Informationsvermittlung als Wirkfaktoren von Beratung, werden in den zwei Beratungsformaten denn auch unterschiedlich gefüllt. Setzt professionelle Beratung zum Beispiel auf situationsbezogenes Fachwissen zum Schliessen von Informationsdefiziten, vermittelt Peer-Beratung Insiderwissen und Erfahrungswissen. Dadurch können unterschiedliche Facetten einer Fragestellung beleuchtet werden. Sind professionelle Beratungsbeziehungen auf ausgeprägtem Rollenbewusstsein und hohem Bewusstsein für Nähe / Distanz aufgebaut, und wird dadurch die Eigenständigkeit der Ratsuchenden gefördert, baut die Peer-Beziehung auf Symmetrie und Gleichheit, um ein Gefühl von „Mateship“ im Sinne einer vertrauensvollen Beziehung zu einem Kumpel zu kreieren und so Menschen zu erreichen, die mit professioneller Beratung nicht erreicht werden können.

Zu den Profis haben die Ratsuchenden wie eine grössere Distanz, als Peer-Berater sind wir näher an den Ratsuchenden dran. Das sieht man auch an der Sprache, eben an dieser Jugendsprache.

Aurora, Peer-Beraterin bei Pro Juventute

Zudem kann die Peer Beratung - wie  wohl kein anderes Format  - belastende Situationen normalisieren und deren erfolgreiche Bewältigung als möglich erscheinen lassen. Junge Ratsuchende erfahren in der Peer Beratung häufig, dass ihr Problem gar nicht so einzigartig ist und dass es durchaus junge Menschen gibt, die eine ähnliche Situation schon gemeistert haben. Sie können also von den Erfahrungen ihres Gegenübers profitieren und plötzlich scheint die Möglichkeit, „es“ selber ebenfalls zu schaffen, sehr viel greifbarer zu sein. 

Peer-Berater*innen werden fachlich eng begleitet

Auf dem Webportal von Beratung + Hilfe 147 sind Avatare von jungen Menschen aufgeschaltet, die sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich als Peer-Berater*innen engagieren. Sie treten dort mit ihrem Pseudonym auf, damit die Anonymität in der Beratung gewahrt bleibt.

Sie nennen aber ihr echtes Geschlecht und ihr richtiges Alter – und sie geben preis, welche eher schwierigen Erfahrungen sie selber schon gemacht haben. Dies ermöglicht Ratsuchenden selber zu bestimmen, welche Person für einen Austausch zum jeweiligen Thema am besten geeignet ist. Immer Montag und Dienstag abends treffen sich vier bis fünf der Berater*innen von Chat mit Gleichaltrigen an einem Standort der Stiftung Pro Juventute, um den Peer-Chat von 19 bis 22 Uhr gemeinsam zu bedienen. Sie alle wurden vom professionellen Team von Pro Juventute sorgfältig ausgewählt und mit einer Schulung auf ihre anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet. Im Zentrum der Schulungen stehen denn auch nicht die Vermittlung von sozialarbeiterischem oder psychologischem Fachwissen, sondern die Vermittlung von Kommunikationskompetenzen und der Aufbau eines Bewusstseins über Möglichkeiten und Grenzen der Unterstützung unter Gleichaltrigen.

Ich habe mich von Anfang an sehr aufgehoben und verstanden gefühlt. Man hat uns mehrmals gefragt ob wir wirklich so weit sind, einen Chat zu übernehmen. Man hätte ohne Probleme dem Peer-Coach sagen können, dass man sich noch nicht bereit fühlt.

Mila, Peer-Beraterin bei Pro Juventute

Das Konzept von „Jugendliche beraten Jugendliche“ sieht vor, dass die Peer-Berater*innen immer im Team arbeiten. Der Austausch über laufende Beratungen hilft, gelesenes einzuordnen und reflektiert zu antworten. Zudem wird jedes Chat Team live von einer Profiberaterin oder einem Profiberater aus dem Team von Beratung + Hilfe 147 als Coach begleitet. Zwar halten diese sich während dem Chat-Betrieb bewusst zurück. Wird ihr Input aber gebraucht, oder verlangt ein Chat nach einer Fachperspektive, sind sie zur Stelle und können sich in Echtzeit in die Diskussion - oder im Extremfall mit einer fachlichen Intervention direkt in einen Chat - einschalten. Letzteres kommt aber äusserst selten vor. In der überwiegenden Mehrheit aller Fälle genügt es, wenn der Coach den Jugendlichen wohlwollend zur Seite steht und sie das tun lässt, was sie wohl besser können als er selbst: authentisch und in ihrer eigenen Sprache ihre eigenen Gedanken zu Sorgen und Fragen aus dem Alltag von jungen Menschen formulieren.

Peer-Beratung benötigt seriöse Grundlagen und fachliche Begleitung. Beides kann Pro Juventute - auch durch ihre umfassende Erfahrung in der Beratung von jungen Menschen bei „Beratung + Hilfe 147“ – bieten.

Die Erfolgsfaktoren dieses Beratungsformats wurden in einer Evaluation der FHNW (liegt der Redaktion vor) untersucht und dokumentiert.

 

Betroffenenkompetenz schafft win-win Situationen

Peer-Beratung, als Beratung unter Gleichgestellten, ist bei Pro Juventute zur Ergänzung der professionellen Beratung geworden. Sie kann mithelfen, die Hürde für das Annehmen von Unterstützung erheblich zu senken und junge Menschen so überhaupt erst für Hilfsangebote erreichbar zu machen. Dies ist nur eine der besonderen Stärken von Peerarbeit. Da die Interaktion in Peer Formaten von einem starken lebensweltlichen Bezug geprägt ist, können dort Lösungen entstehen, deren Passung und Niederschwelligkeit in klassischen Settings der Sozialen Arbeit so nicht möglich wären.

Es macht mich glücklich anderen helfen zu können (oder es zumindest zu versuchen). Mit jeder Beratung lernt man etwas dazu, man entwickelt sich selber weiter. Durch das Weitergeben von eigenen Erfahrungen verarbeitet und sieht man das Erlebte nochmals aus einem anderen Blickwinkel. Von dem Peer-Chat profitieren definitiv nicht nur die Ratsuchenden!

Luna, Peer-Beraterin bei Pro Juventute

Betroffenenkompetenz kann wirkungsvoll in die professionelle Soziale Arbeit einbezogen werden. Dabei dient sie den Ratsuchenden, aber auch den Ratgebenden. Diese profitieren davon, als kompetent und damit wertvoll wahrgenommen zu werden, was erheblich zu ihrer eigenen Entwicklung beitragen kann. Betroffenenkompetenz schafft so einen echten Gewinn – für alle Beteiligten!


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