Digitalisierung Fokusartikel

Sozialraumorientierung: real, digital, hybrid

März 2022

Das Verständnis des Raumes und die Reflexion der Grundprinzipien legen für die sozialraumorientierte Arbeit das Fundament für den Einbezug digitaler Möglichkeiten. Die Entwicklung zeigt in die Richtung einer ganzheitlichen und somit hybriden Perspektive.

Viele aktuelle Konzepte und fachliche Ansätze der Sozialen Arbeit sind in einer Zeit entstanden, in der die Digitalisierung noch kein Thema war. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob im Zusammenhang mit dem digitalen Wandel neue, spezifische Konzepte und Modelle entwickelt werden müssen.

In einem ersten Schritt scheint es jedoch sinnvoller, das Bestehende in Bezug auf seine Anwendung im digitalen Kontext zu überprüfen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Der Vorteil einer solchen Erweiterung ist, dass das Reale (oder Analoge) und das Digitale nicht getrennt, sondern miteinander verschränkt betrachtet werden können. Das vermindert beispielsweise die Gefahr, neue Exklusionsrisiken zu übersehen und vergrössert die Chancen, die Verbindungen zwischen dem Realen und Digitalen aktiv zu gestalten.

Von der realen zur hybriden Sichtweise

Die Sozialraumorientierung schafft die Möglichkeit, die Leistungsangebote der Sozialen Arbeit räumlich zu denken. Damit schlägt sie einen Bogen von der Betrachtung des Einzelfalles hin zu einer offeneren Perspektive auf die Ressourcen, welche beispielsweise in der Bevölkerung vorhanden sind, um soziale Probleme zu lösen oder zu lindern und das Zusammenleben zu gestalten. Für die Menschen ist der Sozialraum auch immer ein Ort der Begegnung, der Identität wie auch der Bildung1. Im digitalen oder virtuellen Raum sind neue Formen und Möglichkeiten entstanden, die sich mit einem ausschliesslich «realen» Raumverständnis nicht erfassen lassen. Die Herausforderung für soziale Organisationen, die sozialraumorientiert arbeiten, ist damit gegeben: den Raum nicht nur real-geographisch, sondern mit dem Digitalen verschränkt und damit hybrid zu denken.

Reflexion der Grundprinzipien

Die Weiterentwicklung der Sozialraumorientierung für den digitalen Kontext beinhaltet nicht nur ein hybrides Raumverständnis, sondern auch die reflexive Betrachtung der 5 Prinzipien des Fachkonzepts2. Anhand von exemplarischen Fragestellungen wird deutlich, wie eine Annäherung an diese Auseinandersetzung möglich ist:

  • Welche veränderten Interessen sind feststellbar?
  • In welchen digitalen Kanälen äussert/diskutiert die Bevölkerung ihre Interessen?
  • Wie wird der digitale Raum von Menschen für ihre lebensweltliche Praxis genutzt?
  • Gibt es im digitalen Raum neue, relevante Bewegungen oder Entwicklungen?
  • Wie können neue Initiativen und Engagements im digitalen Raum identifiziert und eingebunden werden?
  • Wie können Menschen zum sicheren Umgang mit digitalen Möglichkeiten befähigt werden?
  • Welche Kompetenzen sind auf Seite der Fachpersonen zur Unterstützung von digitalen Engagements erforderlich?
  • Wie können digitale Ressourcen für die Menschen zugänglich gemacht werden?
  • Welche Lücken können durch digitale Angebote geschlossen werden?
  • Welche Ziel- und Anspruchsgruppen können durch die Digitalisierung neu oder niederschwelliger angesprochen werden?
  • Welche Ziel- oder Anspruchsgruppen sind von Ausschlussrisiken durch die Digitalisierung betroffen?
  • Wie können digitale Mittel genutzt werden, um Akteur*innen zu finden und einzubinden?
  • Vereinfachen digitale Hilfsmittel den Zusammenschluss und die Zusammenarbeit von Akteur*innen mit gemeinsamen Interessen?
  • Wie können neue Kooperationsformen gestaltet werden?
  • Inwiefern beeinflussen digitale Möglichkeiten die Machtverhältnisse zwischen den Akteur*innen?

Diese Prinzipien und Fragestellungen zeigen auf, dass sich die konzeptionellen Grundlagen der Sozialraumorientierung auch im Kontext der Digitalisierung anwenden lassen. Ein spezifisches Konzept für den digitalen Sozialraum erscheint damit nicht erforderlich. Voraussetzung dafür ist, dass die digitale Dimension in die Betrachtung integriert und so zu einer fachlichen Grundlage für soziale Organisationen und Fachpersonen der Sozialen Arbeit wird. Dann widerspiegelt sich darin die lebensweltliche Realität der Ziel- und Anspruchsgruppen.

Digitale sozialräumliche Gestaltungsmöglichkeiten

Soll nicht nur der «reale» Raum für die sozialraumorientierte Arbeit genutzt werden, sind bestehende Angebote, Aktivitäten und Beteiligungsmöglichkeiten zu überprüfen und – wo sinnvoll - durch digitale Alternativen zu ergänzen. Dazu gehören – als exemplarische Beispiele:

  • digitale und hybride Veranstaltungen, Projekte und Aktionen
  • die Nutzung (oder der Aufbau) digitaler Kanäle und Plattformen, um
    • Ziel- und Anspruchsgruppen zu erreichen
    • Informationen zu verbreiten oder zu gewinnen
    • neue Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen
    • Akteur*innen zu vernetzen
    • über verfügbare Angebote und Versorgungsleistungen zu informieren
  • die eigene Website als Visitenkarte im Internet im Hinblick auf Ziel- und Anspruchsgruppenorientierung zu optimieren
  • neue Teilhabemöglichkeiten für die politische Partizipation schaffen

Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden, muss erst eine Übersicht gewonnen werden, was im eigenen digitalen Sozialraum bereits besteht. Dazu ist der Dialog mit den verschiedenen Ziel- und Anspruchsgruppen der direkteste Weg.


Quellenangaben und Leseempfehlungen zum Thema

  1. Kress Jennifer (2010) Zum Funktionswandel des Sozialraums durch das Internet, sozialraum.de
  2. Hinte, Wolfgang (2009): Eigensinn und Lebensraum – zum Stand der Diskussion um das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN), 1/2009, 78. Jg., München, S. 20-33.

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