Digitalisierung Fokusartikel

Bestandesaufnahme Digitalisierung in Sozialen Organisationen

Oktober 2019

Die Hochschule für Soziale Arbeit hat im Auftrag des Vereins sozialinfo.ch eine Studie durchgeführt, die das Ziel verfolgte, den Bedarf der sozialen Institutionen in der Schweiz bezüglich technologischem Wandel zu erkennen. In den Gesprächen mit Vertretenden der sozialen Organisationen wurde das Verständnis von Digitalisierung und deren Umsetzung in der Organisation erfragt.

Die Befragung zeigt, dass zahlreiche Organisationen digitale Technogien nutzen, um die Effizienz und Qualität zu steigern. Jedoch nur die Hälfte der Organisation stimmte zu, dass sie digitale Technologien nutzen, um Abläufe zu automatisieren. Geht es um das Erreichen der Zielgruppe mit mobilen Kanälen und Social Media, so ist dies eindeutig kein zentraler Fokus von sozialen Organisationen.

Impuls zur Digitalisierung geben Leitungspersonen

Die Befragung zeigt zwei zentrale Faktoren auf, welche für die Organisationen und deren digitaler Transformation von Bedeutung sind.

Erstens ist die Unterstützung der Leitung bei digitalen Vorhaben entscheidend. Je stärker die Leitung einer Organisation hinter den Projekten steht desto weiter entwickelt ist die Organisation. Ein zweiter wichtiger Faktor für die Realisierung von Projekten ist die Finanzierungssicherheit. Die notwendigen Ressourcen müssen durch die Leitung zur Verfügung gestellt werden. Die Ressourcen umfassen sowohl finanzielle Mittel als auch Arbeitszeit. Die Leitung ist daher in einer Organisation der Motor, welcher Entwicklungen vorantreiben kann.

Lösungen mit besonderem Mehrwert bilden die Ausnahme

Bei den befragten Organisationen zeigt sich eine «Bodenständigkeit» bei geplanten Entwicklungen. Das bedeutet, dass soziale Organisationen sich mit Fragen beschäftigen wie beispielsweise dem papierarmen Büro, der Überarbeitung des Webauftritts oder dem Einbezug ergänzender Kommunikationskanäle, wobei bei Letzterem häufig die Prüfung von bestehenden Social Media-Plattformen im Zentrum steht. Innovative Produkte respektive Projekte, welche etwas Neues mit besonderem Mehrwert erschaffen, bilden eher die Ausnahme. Dabei unterscheiden sich die einzelnen zielgruppenspezifischen Tätigkeitsfelder höchstens graduell. So sind beispielsweise in der aufsuchenden Sozialen Arbeit wie beispielsweise in der Gassenarbeit mobile Geräte mit entsprechenden Apps in Entwicklung oder bereits im Einsatz. Diese dienen jedoch stärker als Informationskanäle für die Sozialarbeitenden als der direkten Anwendung durch Klientinnen und Klienten. Vereinzelt wurden auch Apps entwickelt, welche es beispielsweise in der Arbeitsintegration von Jugendlichen der Zielgruppe erleichtern zu kommunizieren und ihre Dokumente zu verwalten.

Die befragten Organisationen stehen der Digitalisierung eher passiv gegenüber. Sie erhoffen sich durch digitale Entwicklungen aber Lösungen, welche in Zukunft die Arbeit vereinfachen sollen, so beispielsweise im Kontext von Übersetzungsarbeiten, welche via Knopfdruck fehlerfrei umgesetzt werden könnten oder künstliche Intelligenzen, welche redundante Anfragen standardisiert erkennen und bearbeiten könnten.

Vorgehen der Studie

Im ersten Teil der Studie wurden mit 100 Vertreterinnen und Vertretern sozialer Organisationen ein Telefoninterview geführt. Mit 10 Personen wurde aufgrund der ersten Befragung ein vertiefendes Interview geführt. Hierbei lag der Fokus auf der Identifikation der zentralen Treiber der digitalen Transformation.

Die Studie hat keinen repräsentativen Charakter, weshalb keine gesicherten Aussagen für alle sozialen Organisationen in der Schweiz abgeleitet werden können.

Ungleiche Voraussetzungen für die Digitalisierung

Unterschiedliche Rahmenbedingungen für die Digitalisierung zeigen sich zwischen staatlichen und privaten Organisationen. Dabei existieren auf beiden Seiten sowohl förderliche als auch hinderliche Faktoren.

Private Organisationen sind stärker dem Marktdruck ausgesetzt. Sie müssen zum einen nach Möglichkeit das beste Angebot entwickeln, zum anderen dieses aber auch möglichst kostengünstig produzieren können. Dies führt zum Anreiz, die Angebote und Prozesse stetig weiter zu optimieren. Private Organisationen besitzen im Vergleich zu staatlichen einen wesentlich grösseren Handlungsspielraum. Die Leitungen von privaten Organisationen können einfacher Projekte initiieren und die Ressourcen sprechen. Die Studie hat deutlich gezeigt, dass bei privaten Organisationen die Leitungen den digitalen Wandel stärker unterstützen als bei staatlichen Organisationen. Die privaten Organisationen sehen Verbesserungen durch digitale Innovation jedoch als Investitionen, welche geschützt werden sollen. Das heisst, dass ein gegenseitiges Lernen durch «Best Practice» nicht im Sinne der Innovationstreiber ist. Die selbst entwickelten Innovationen sollen möglichst lange als Marktvorteile gegenüber den Mitbewerbenden genutzt werden können.

Dem Konkurrenzdruck unterliegen die staatlichen Organisationen nicht. Sie sind zuständig für ihr geografisches Gebiet wie eine Gemeinde oder ein Kanton und besitzen auf diesem Gebiet ein Monopol für gewisse Leistungen. Die einzelnen staatlichen Organisationen sind darum eher bestrebt voneinander zu lernen und Innovationen auch anderen zugänglich zu machen. Der Leiter einer staatlichen Organisation hat dies so ausgedrückt: «Wir haben ein grosses Interesse daran, unseren Partnern unsere Innovation zur Verfügung zu stellen. Wir sind vernetzt und auf Partner angewiesen. Darum teile ich auch unser Wissen, Leitfäden, Lessons learned, um ihnen Fehler zu ersparen.»

Neue Erwartungen der Klientinnen und Klienten durch die Digitalisierung

Aus der Befragung geht hervor, dass 87 Prozent der Organisationen neue Bedürfnisse bei ihren Klientinnen und Klienten feststellen, welche mit der Digitalisierung in Zusammenhang stehen. Diese Bedürfnisse bestehen unabhängig von Handlungsfeldern, Zielgruppen oder Tätigkeiten der Organisationen. Im Vordergrund stehen dabei die neuen Kommunikationskanäle und damit einhergehend auch der Smartphone-Gebrauch, der zu veränderten Bedürfnissen führt. Konkret bestehen heute höhere Erwartungen an die Erreichbarkeit und die Geschwindigkeit der Prozesse. Wurden beispielsweise Unterlagen früher per Post eingereicht und damit verbunden ein entsprechender Zeitpuffer für den Postweg und Bearbeitung des Anliegens einberechnet, werden Dokumente heute abfotografiert und per Mail versendet. Eine Bearbeitung wird in der Folge ebenfalls in kürzester Zeit erwartet. Ein weiteres Bedürfnis betrifft die Medienkompetenz der Klientinnen und Klienten, beispielsweise müssen sich stationäre Einrichtungen für Jugendliche Gedanken zur Stärkung der Medienkompetenz machen. Angebote welche Seniorinnen und Senioren als Zielgruppe vorsehen hingegen müssen sich überlegen, wie sie die Personen hinsichtlich der digitalen Herausforderungen stärken können. Letztendlich gehen diese Überlegungen immer gleichzeitig einher mit der eigenen Medienkompetenz, welche hinterfragt und in welche investiert werden muss.

Digitalisierung richtet sich nicht immer am Bedarf der Klientel

Rund zwei Drittel der Organisationen erhebt Daten zur Angebotsnutzung der Klientel, jedoch nur rund ein Drittel dieser Organisationen verwendet diese auch für die Ausrichtung der digitalen Angebote. Dass Datenfriedhöfe entstehen und bestehende Daten aus unterschiedlichen Gründen nicht für die Weiterentwicklung der eigenen Angebote genutzt werden, ist eine Tatsache an der möglicherweise grosses Potenzial verloren geht.

Grundsätzlich fällt auf, dass die befragten Organisationen nicht in Erfahrung bringen, was ihre Klientinnen und Klienten von ihnen erwarten oder welche Wünsche sie an die gebotene Dienstleistung richten. Beispielhaft lassen sich folgende Zitate aus den Interviews wiedergeben:

«Wäre das ein Bedürfnis der Klienten, dass sie ihre Akten besser kennen und wissen was läuft? – Das müsste man die Leute fragen. Ich denke eher nicht. Mich fragt niemand, was in den Akten ist.»

«Es gab schon vereinzelt Leute, die fanden die Homepage nicht gut. Man sollte den Informationsteil zugänglicher gestalten. Vielleicht wäre eine App noch eine Idee. Aber konkret hat bei mir noch nie jemand nachgefragt.»

Diese Aussagen zeigen, dass vereinzelt eine proaktive Haltung seitens der Klientinnen und Klienten erwartet wird, um ihre Ideen aufzunehmen. Gleichzeitig werden Ideen generiert und teilweise umgesetzt, ohne vorher zu prüfen, ob sie von der Zielgruppe getragen werden. Diese Vorgehensweise birgt Risiken in sich.

Fazit der Studie

Organisationen im Sozialbereich sind häufig reaktiv tätig sind. Sie antizipieren Herausforderungen, welche in der Praxis an sie gestellt werden, und versuchen darauf adäquate Antworten zu finden. Das bestehende Technologiedefizit führt jedoch dazu, dass in den Organisationen häufig Insellösungen gefunden werden. Diese sind teilweise nicht kompatibel mit anderen Geschäftsprozessen oder den Prozessen anderer Organisationen. Der Konkurrenzdruck, vor allem bei privaten Organisationen im Sozialbereich führt dazu, dass Innovationen als Investitionen gesehen werden, welche möglichst nicht mit anderen geteilt werden. Innovationen gehen auch nur selten über das «allgemein Denkbare» hinaus. Sie umfassen allenfalls die Schnittstellen zu Klientinnen und Klienten oder die Vereinfachung von internen Abläufen durch die Digitalisierung von Dokumenten. Weiterführende Innovationen sind nur selten erkennbar. Wenn der Sozialbereich sein Defizit bei der Digitalisierung aufholen möchte, so wären vermehrte Kooperationen und die Bildung von Think Tanks sinnvoll.

Das Projektteam: Sarah Bestgen, Prof. Stefan Adam, Dominik Tschopp, Roger Kirchhofer

Was bedeutet Digitalisierung?

Digitalisierung ist ein Begriff, der unterschiedliche Dimensionen beinhaltet. In der Studie wurden zwei Definitionen als Grundlage gewählt: Die eine Definition von Kreidenweis (2018) setzt den Fokus des Verständnisses von Digitalisierung auf die Entmaterialisierung bestehender Produkte wie beispielsweise Musik, Fotos oder gar Geld. Stattdessen gibt es heute eine Musikcloud oder einen Streaming-Anbieter, wir haben unsere Bilder auf dem Handy und bezahlen mit einer Karte. Alles funktioniert mittels Übertragungen von Bits und Bytes. In der Folge sind riesige Mengen an Daten „nahezu kostenfrei transportierbar, kopierbar und elektronisch auswertbar und verändern so die Wertschöpfungsketten in vielen Bereichen des Wirtschaftens radikal.“ (Kreidenweis 2018, 12-13). Die zweite Definition von Berghaus und Back (2016) beschreibt als digitale Transformation die Veränderungen in sämtlichen Bereichen der Organisation, aber auch von Produkten durch digitale Technologien. Deren rasch voranschreitende Entwicklung sowie die daraus resultierten Innovationen haben in Unternehmen und ganzen Branchen zu disruptiven Veränderungen geführt (Berghaus und Back 2016: 99).


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