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Eine wegweisende Studie für die Sozialhilfe

November 2021

Die BASS-Studie zeigt es klar und deutlich: In Winterthur konnten dank einer Senkung der Fallbelastung in der Sozialhilfe 2,7 Millionen Franken eingespart werden. Fachpersonen fühlen sich bestätigt, dass sich Investitionen in die Beratung auszahlen. Andere Gemeinden wollen es Winterthur nun gleichtun und ihre Sozialdienste ausbauen.

Mehr Stellen schaffen, um damit in der Endabrechnung Geld zu sparen. Es mag paradox klingen. Doch genau dies ist in Winterthur gelungen. Ende 2017 beschloss das Stadtparlament im Rahmen der Budgetdebatte, im Sozialdienst elf neue Stellen zu schaffen und den Stellenetat somit von 19 auf 30 Vollzeitstellen zu erhöhen. Die Idee dahinter: Durch zusätzliches Personal soll die Beratung von Sozialhilfebezügerinnen und –bezüger verbessert werden, sodass deren Chancen steigen, im Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen. Dem Entscheid des Parlaments lag eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) zugrunde, welche die Stadt in Auftrag gegeben hatte (Artikel von 2018). Diese war davon ausgegangen, dass eine Senkung der Falllast zu signifikanten Mehreinnahmen der Sozialhilfebeziehenden führen wird.

Knapp vier Jahre, nachdem der Versuch in Winterthur gestartet wurde, hat sich die Prognose der ZHAW-Studie nun also bestätigt. Zu diesem Resultat kommt die Begleitstudie durch das Büro für Arbeits- und Sozialpolitische Studien (BASS), die kürzlich publiziert wurde. Durch die engere Begleitung der Klientinnen und Klienten gelang es, die Kosten für die Sozialhilfe in Winterthur merklich zu reduzieren. Die in der Studie durchgeführte Hochrechnung kommt allein für das Jahr 2019 auf Einsparungen in der Höhe von 2,7 Millionen Franken – und da sind die höheren Personalkosten bereits abgezogen worden.

 

80 statt 140 Fälle pro Vollzeitstelle

Was hat sich also geändert? Vor der Aufstockung der Stellen betreuten Sozialarbeitende, die zu 100 Prozent angestellt waren, gleichzeitig bis zu 140 Dossiers. Eine Zahl, die vonseiten der Fachleute als viel zu hoch eingestuft wird. Das erklärte Ziel, die Falllast auf 75 Fälle zu senken, wurde in Winterthur während dieser ersten Phase zwar nicht erreicht, aber sie konnte immerhin auf 80 Fälle reduziert werden. Und der Effekt ist gewichtig: Die monatlichen Kosten pro Fall sanken um 75 Franken 50 oder 3,6 Prozent. Zudem konnten sich mehr Menschen aus der Sozialhilfe lösen, insgesamt 27 Prozent. In Zahlen ausgedrückt: Vor der Testphase verliessen im Schnitt 39 Personen pro Monat die Sozialhilfe, im Jahr 2019 waren es deren 50.

Während ein Teil der ehemaligen Sozialhilfebezügerinnen und –bezüger (44 Prozent) heute erwerbstätig und somit nicht mehr auf Hilfe der öffentlichen Hand angewiesen ist, erhielten andere (rund 25 Prozent) Leistungen von vorgelagerten Systemen wie der IV. Dies sei, so sind sich die befragten Sozialarbeitenden einig, deshalb möglich gewesen, weil sie dank der tiefen Falllast einen besseren Überblick über die Dossiers hatten. Sie konnten Klientinnen und Klienten „informierter, bei Bedarf vertiefter und letztlich effektiver begleiten und unterstützen“, wie dem BASS-Bericht zu entnehmen ist.

Investition ins Fachpersonal zahlt sich aus

So bemerkenswert das Ergebnis der Studie auch ist, in Fachkreisen ist man nicht überrascht: „Für uns war schon immer klar, dass es sich auszahlt, ins Fachpersonal zu investieren“, sagt Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Deshalb sei es natürlich befriedigend, dass mit der BASS-Studie nun eine Bestätigung vorliege. Er glaube auch, dass nun eine Diskussion darüber angestossen werde, wie die Sozialhilfe funktionieren soll. Noch vor wenigen Jahren wurde vor allem von bürgerlicher Seite gefordert, auf stärkere finanzielle Anreize und Sanktionen zu setzen, um die Arbeitsintegration zu stärken. Solche Überlegungen funktionierten in der Praxis aber nur bedingt, sagt Kaufmann. Die Resultate aus Winterthur zeigten hingegen, dass es durchaus wirtschaftlich sein kann, zusätzliche Mittel gezielt einzusetzen. Für den SKOS-Geschäftsführer ist zudem klar, dass es neben einer intensiveren Beratung weitere Massnahmen brauche, um Unterstützte in den Arbeitsmarkt zu integrieren. So müsse beispielsweise in die Bildung dieser Menschen investiert werden. Und die Wirtschaft sei aufgefordert, auch Arbeitsstellen für Leute ohne Qualifikation zur Verfügung zu stellen

Auch Stéphane Beuchat, Co-Geschäftsleiter des Berufsverbands AvenirSocial, ist ob des Resultats der Studie nicht überrascht. Er meint: „Das ist eine sehr gute Ausgangslage, um die Entwicklung in diese Richtung weiter voranzutreiben.“ AvenirSocial wolle die Studie denn auch nutzen, um weitere Parlamente und Gemeinden davon zu überzeugen, in die Sozialdienste zu investieren. Allerdings möchte der Berufsverband noch einen Schritt weitergehen: In einem im Frühling 2021 veröffentlichen Positionspapier zum Thema Armutsbekämpfung fordert AvenirSocial eine maximale Falllast von 60 Fällen pro Vollzeitstelle. „Damit die Sozialdienste langfristig gestärkt werden, braucht es eine noch tiefere Fallbelastung.“ Eine solche Reduktion habe nur Vorteile: Heute sei die Personalfluktuation in vielen Sozialdiensten sehr hoch, mit jedem Abgang ginge Know-How verloren. Durch eine Reduktion der Falllast könne auch das Arbeitsklima verbessert und somit mehr Konstanz hergestellt werden.

Vorstösse in vielen Gemeinden eingereicht

In Winterthur soll nach dem Ende der Pilotphase nicht Schluss sein: Der zuständige Stadtrat Nicolas Galladé will die elf zusätzlichen Stellen, welche bis Ende 2021 befristet waren, auch weiterhin beibehalten. Er hat dem Parlament einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Das erfreuliche Resultat aus Winterthur blieb auch anderen Schweizer Gemeinden nicht verborgen. Bereits 2019 hatte die FDP in Basel-Stadt einen entsprechenden Vorstoss eingereicht. Per Anfang 2022 wird der Basler Sozialdienst um 5,5 Vollzeitstellen aufgestockt, vorerst für sechs Jahre. Auch in Luzern wird derzeit über eine Erhöhung des Stellenetats in den Sozialen Diensten diskutiert. Das Parlament wird im November 2021 über zusätzliche Stellen in den Sozialen Diensten befinden.

 

Das Thema ist aber auch längst in mittelgrossen und kleineren Städten und Gemeinden angekommen. Auf einer Zusammenstellung, die die Städteinitiative Sozialpolitik sozialinfo.ch zur Verfügung stellt, sind unter anderem Lenzburg, Frauenfeld, Wangen-Brüttisellen und Will und Flawil aufgeführt. Auch die Stadt Biel hat im Sozialdienst zusätzliche Stellen geschaffen. Dies allerdings nicht explizit, um die Falllast und somit die Kosten zu senken, sondern vielmehr, weil die Stadt mit einer Zunahme der Sozialfälle rechnet.

Damit künftig auch viele weitere Gemeinden die Falllast reduzieren können, arbeitet die ZHAW gemeinsam mit der SKOS derzeit an einem digitalen Tool, mit dem sich die ideale Falllast berechnen lässt. Es handelt sich hierbei um den sogenannten Caseload Converter, bei dem die Gemeinden ihre vorhandenen Ressourcen eingeben können. Unter Miteinbezug verschiedener Faktoren soll für jeden Sozialdienst die ideale Grösse berechnet werden. Das Projekt wird wie die Studie aus dem Jahr 2017 von Miryam Eser Davolio geleitet.

BASS

Begleitstudie zu den Auswirkungen der Reduktion der Fallbelastung in der Sozialberatung

Aufgrund ermutigender Befunde eines Pilotprojektes hat der Stadtrat von Winterthur beschlossen, die Personalressourcen für die Sozialberatung auf vier Jahre befristet zu erhöhen. Das Büro BASS hat die Auswirkungen dieser flächendeckenden Falllastsenkung (von dauerhaft über 120 auf unter 80 zu betreuende Dossiers pro Vollzeitstelle) in einer Begleitstudie vertieft untersucht und analysiert, wie sich diese auf die Kosten pro Sozialhilfefall, auf die Erwerbsintegration der Betroffenen sowie auf die Häufigkeit von Ablösungen auswirkt. Im Fokus stand weiter die Frage, ob sich der Ausbau der personellen Ressourcen für die Stadt auch finanziell rechnet und dadurch die Sozialhilfeausgaben verringert werden können.

Sozialhilfe: Weniger Kosten dank mehr Sozialarbeitenden

Die Sozialberatung der Stadt Winterthur konnte von 2018 bis Ende 2021 zusätzliche befristete Stellen schaffen. Ziel war, die Betreuung der Sozialhilfebeziehenden zu verbessern. Eine Studie zeigt nun, dass sich das auch finanziell gelohnt hat: Pro eingesetztem Franken für den personellen Mehrbedarf resultiert ein Gewinn von 1,74 Franken, was einer Reduktion der jährlichen Gesamtkosten von 2,7 Millionen Franken entspricht. Der Stadtrat wird dem Grossen Gemeinderat beantragen, elf Stellen unbefristet weiterzuführen.

AvenirSocial

Positionspapier der Allianz «Austausch Armut» der Betroffenenorganisationen und Organisationen aus dem Bereich der Armutsbekämpfung und -prävention

Menschen in Armut (Sozialhilfeempfangende, Working Poors, IV- und EL-Bezüger*innen u.a.) stehen oft im Fokus eines Missbrauchs oder der Kriminalität in Bezug auf ihre finanzielle Unterstützung, werden als Schmarotzer*innen bezeichnet oder sind der Willkür einer Behörde ausgeliefert. Expert*innenwissen scheint nicht mehr zu greifen. Einzelfälle werden aufgebauscht. Gerechtigkeit und Solidarität, Demokratie und Menschenrechte, Respekt und Anstand erscheinen als verlorene Werte einer anderen Epoche.


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