Im Sozial- und Gesundheitsbereich fehlen oft die finanziellen Mittel, um Innovationen voranzutreiben. Mit dem NTN Innovation Booster «Co-Designing Human Services» wurde eine einmalige Chance geschaffen, um sowohl innovative Entwicklungen anzustossen, als auch neue Formen der Partizipation zu verwirklichen.
Der «Schweizerische Verein zur Förderung der sozialen Innovation»startet mit dem NTN Innovation Booster «Co-Designing Human Services» ein Förderprogramm zur Weiterentwicklung von Dienstleistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich. Anne Parpan-Blaser und Stefan Schnurr, beide an der Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW tätig, engagieren sich im Management Board des Innovation Booster.
« In der Schweiz gibt es so etwas in dieser Grössenordnung bisher nicht. »
Der «Schweizerische Verein zur Förderung der sozialen Innovation» wurde im Januar 2021 mit dem Anliegen gegründet, Innovationen im Sozial- und Gesundheitsbereich zu ermöglichen. Der Verein hat von Innosuisse den Zuschuss erhalten, einen sogenannten NTN Innovation Booster aufzubauen und zu betreiben. Diese Form der Innovationsförderung erlaubt es, Akteure aus Forschung, Praxis und Gesellschaft rund um ein Thema zusammenzubringen und die ersten Schritte einer Entwicklung finanziell zu unterstützen.
Sozialinfo/Martin Heiniger: Welche Rolle spielt der «Schweizerische Verein zur Förderung der sozialen Innovation» bei diesem NTN Innovation Booster?
Anne Parpan-Blaser: Der Verein ist das sogenannte «Leading house», also der Vertragspartner von Innosuisse und damit der Träger dieses Innovation Boosters «Co-Designing Human Services». Er hat die Mittel beantragt und setzt sie ein, um Innovationen im Gesundheits- und Sozialbereich in den Bereichen Gesundheit zu fördern, um innovativen Ideen einen Anschub zu geben, eben einen «Boost». In der Schweiz gibt es so etwas bisher in dieser Grössenordnung nicht. Dieser Innovation Booster ist eine im Sozial- und Gesundheitswesen noch nie dagewesene Möglichkeit, Unterstützung und auch finanzielle Mittel zu erhalten und Schritte zu machen, um neue Ideen voranzubringen oder Bestehendes zu verbessern.
Wie setzt sich der Verein zusammen?
Anne Parpan-Blaser: Mitglieder sind bislang vor allem Hochschulen und Dachorganisationen bzw. grosse Organisationen aus dem Gesundheits- und dem Sozialwesen. Bis jetzt bilden unsere Mitglieder also vor allem zwei Ecken des Dreiecks aus Forschung, leistungserbringenden Organisationen und Nutzer*innen von Sozial- und Gesundheitsdiensten ab. Der Verein wächst aber kontinuierlich und weitere Mitglieder sind willkommen.
Was gab den Anstoss zur Vereinsgründung?
Stefan Schnurr: Der Verein ist anlässlich einer Ausschreibung von Innosuisse entstanden. Damit war die Idee verbunden, etwas von diesen Fördergeldern, die üblicherweise in die Industrie oder auch in technische Fakultäten gelangen, in den sozialen Sektor zu lenken. Im Gesundheits- und Sozialbereich gibt es grossen Innovationsbedarf, aber den dort tätigen Organisationen ist es nicht möglich, die Rücklagen zu bilden, die für die Entwicklung von Innovationen nötig sind. Der Innovation Booster finanziert gerade diejenigen Phasen von Forschung und Entwicklung, die einem Projektantrag vorgelagert sind.
« Der Innovation Booster finanziert diejenigen Phasen von Forschung und Entwicklung, die einem Projektantrag vorgelagert sind. »
NTN Innovation Booster «Co-Designing Human Services»
Mit dem NTN Innovation Booster «Co-Designing Human Services» (IB-CDHS) sollen neuartige Ideen für den Sozial- und Gesundheitsbereich angestossen und getestet werden. Der IB-CDHS ist eine einmalige Chance für einen Bereich, in dem «Risikokapital» und Mittel für Innovationen oft fehlen.
Eine wichtige Leitidee ist dabei, dass Nutzer*innen die Expert*innen für die von ihnen beanspruchten Leistungen sind – deshalb wirken sie mit Vorteil bei der (Weiter)Entwicklung dieser Leistungen mit. «Co-Designing» steht für offene Innovationsprozesse, in denen die Erfahrungen und Bedürfnisse der Nutzer*innen zum Kompass und Motor von Innovation werden.
Der IB-CDHS soll fortan jährlich zu einem bestimmten Jahresthema durchgeführt werden. Das Thema für den laufenden Turnus lautet «Flexible Wohn- und Unterstützungsformen für alternde Menschen». Am 14. März 2022 startet die «Social Innovation Week»; am 5. Mai werden anlässlich des Innovation Forums die ersten Projektgelder vergeben werden.
Der Verein schafft mit dem Innovation Booster «Co-Designing Human Services» also nicht direkt konkrete Innovationen, sondern vielmehr einen Möglichkeitsraum für die Kreation von Projekten?
Stefan Schnurr: Genau, der «Booster» will die Entwicklung von neuen Ideen ermöglichen: bessere Antworten auf bekannte Probleme, neue Antworten auf bisher nicht erkannte oder nicht anerkannte Probleme.
Anne Parpan-Blaser: Die Mittel des Innovation Booster sind spezifisch für die erste Phase einer Innovation gedacht: dass interessierte Menschen in eine Zusammenarbeit kommen und an ihren Ideen weiterdenken und diese soweit konkretisieren und modellieren, dass sie die Grundlagen für ein Gesuch zur Förderung eines Entwicklungsprojekt haben. Durch den Innovation Booster sollen Projektideen bis zur Antragsreife gebracht werden. Und es ist eine wichtige Auflage des Geldgebers Innosuisse, dass nur ein kleiner Teil der Gelder in den Aufbau des Netzwerks, in die Administration, usw. fliessen darf. Der grösste Teil der Gelder soll zu denjenigen gelangen, die innovative Ideen haben und weiterentwickeln. Wir haben uns zudem für eine tranchenweise Vergabe der Gelder an Innovationsteams entschieden.
Das Jahresthema 2022 lautet: «Flexible Wohn- und Unterstützungsformen für alternde Menschen». Wie ist diese Themenwahl zustande gekommen?
Anne Parpan-Blaser: Das Thema haben wir bereits im Rahmen der Gesuchstellung bei Innosuisse als erstes von drei Jahresthemen gesetzt. Es ist ein aktuelles Thema, und es ist ausreichend offen für breite Beteiligung.
Der Einbezug von Betroffenen ins Design von Hilfsangeboten ist ein spannender Punkt. Spiegelt damit der Prozess der Angebotsntwicklung bereits etwas Inhaltliches, was künftig Teil der Lösung sein soll?
Anne Parpan-Blaser: Das ist so. Es ist uns ein Anliegen, die Stellung der Nutzer*innen im Sozial- und Gesundheitsbereich zu stärken. Dabei geht es nicht nur um neue Konzepte und bessere Angebote, sondern auch um neue Haltungen und mehr Partizipation. Hier liegt noch ein grosses Stück Weg vor uns.
Stefan Schnurr: Wir wollen etwas dazu beitragen, dass die Dienste stärker von den Nutzer*innen her gedacht und gemacht werden.
Das heisst, dass auch Fachpersonen in Institutionen umdenken, umlernen und sich auch auf neue Formen von Arbeit mit den Klient*innen einlassen können müssen?
Stefan Schnurr: Auf jeden Fall, ja. Das bedeutet für alle Seiten eine Rollenveränderung: für Fachpersonen, Nutzer*innen und Wissenschaftler*innen.
Anne Parpan-Blaser: In Bezug auf die Nutzer*innen wird es auch darauf ankommen, welche Sprache wir wählen. Das beginnt schon bei unserer Ausschreibung für die Eingabe von Projektideen. Obwohl wir sie mehrfach runtergebrochen haben und mehrere Male darüber gegangen sind, ist sie noch immer sehr kompliziert. Auch hier sind wir am Lernen.
Was sind denn Eure Strategien, um Betroffene anzusprechen und sicherzustellen, dass sie auch wirklich teilnehmen?
Anne Parpan-Blaser: Eine direkte Ansprache ist im Moment noch schwierig. Die Wahrscheinlichkeit ist eher klein, dass jemand, der z.B. in Köniz in einem Altersheim wohnt und unzufrieden ist, unseren Aufruf zur Kenntnis nimmt und sich melden wird. Der Verein und der Booster sind noch zu wenig bekannt, um direkt an Nutzer*innen zu gelangen. Aber ich vertraue darauf, dass bestehende Netzwerke zum Tragen kommen. Jemand, der in dem Bereich arbeitet weiss, wo es beispielsweise aktive Senior*innen- oder Bewohnerinnen-Gruppen gibt, die man einbeziehen könnte.
Stefan Schnurr: Wir versuchen das Prinzip «Co-Designing» und Nutzer*innenbeteiligung auch projektintern abzubilden, indem wir darauf achten, dass in allen Gefässen Nutzer*innen vertreten sind.
Welche Gefässe sind das?
Anne Parpan-Blaser: Das Management Board, das den Innovation Booster auf den Weg bringt, das Panel, also die Jury, die die Ideen beurteilt und über die Vergabe von Geldern entscheidet und natürlich die Innovationsteams, die die Ideen entwickeln.
Ihr sprecht davon, dass die Systeme der sozialen Sicherheit der Schweiz grundsätzlich neu konzipiert werden müssen, um den Erfordernissen der Zukunft zu entsprechen. Gibt es hier bereits konkrete Vorstellungen seitens des Vereins?
Anne Parpan-Blaser: Wir gehen davon aus, dass diejenigen, welche die Dienste in Anspruch nehmen und direkt im Feld arbeiten, die Probleme und Bedarfe kennen, aber bisher zu wenig gehört werden. Wir wollen ermöglichen, dass sie ihre Ideen entwickeln, überprüfen und ausprobieren können.
Vom 14. bis am 18. März findet die Innovationswoche statt. Gibt es da Möglichkeiten, aufzuspringen?
Stefan Schnurr: Ja, alle die sich für das Jahresthema interessieren, können jetzt einsteigen.
Anne Parpan-Blaser: Vom Innovation Booster her machen wir in dieser Woche in allen Sprachregionen nochmals Informationsveranstaltungen zum Jahresthema und den Möglichkeiten, die der Innovation Booster bietet. Das Innovation Forum am 5. Mai ist aber ebenso wichtig wie die Innovationswoche. Man muss also nicht unbedingt schon ab nächster Woche aktiv werden, sondern könnte auch später oder auch erst am 5. Mai dazu kommen, um an Projektideen mitzuarbeiten.
« Dieser Innovation Booster ist eine im Sozial- und Gesundheitswesen noch nie dagewesene Möglichkeit, Unterstützung und auch finanzielle Mittel zu erhalten. »
Wird das Innovation Forum am 5. Mai online oder vor Ort stattfinden?
Stefan Schnurr: Nach heutigem Stand wird das eine Live-Veranstaltung an einem zentralen Ort sein. Und sie wird mehrsprachig sein.
Wie wird das ablaufen?
Anne Parpan-Blaser: Manche Innovationsteams werden sich mit einer kurzen Projektbeschreibung zum Innovation Forum anmelden. Anderen wird es erst an diesem Tag möglich sein, so eine Beschreibung ihrer Idee zu machen. Die Jury wird am Ende des Tages darüber entscheiden, welche der Projektideen einen «Ideation Cheque» von Fr. 1000.- erhalten, um die Idee bis am 6. Juni weiterzuentwickeln. Das ist dann der nächste Zwischenhalt, um wiederum zu entscheiden, welche Projekte in die nächste Phase, die «Discovery Phase» gehen können, für die wiederum Gelder gesprochen werden können.
Stefan Schnurr: Dort gibt es dann Fr. 4000.- pro Innovationsteam bzw. Projektidee.
Die Anzahl Projekte, die einen Schritt weiterkommen, wird jeweils reduziert?
Stefan Schnurr: Nicht zwingend. Wir wollen mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst viele Projekte fördern. Die gestaffelte Förderung orientiert sich auch am Aufwand, den die verschiedenen Entwicklungsphasen mit sich bringen. Sie kann ein Anreiz sein, an den Ideen dranzubleiben. Die Innovationsteams können die Fördermittel frei einsetzen, beispielsweise auch dazu, sich externe Unterstützung zu holen.
Der Verein zur Förderung der Sozialen Innovation ist ein Kooperationsprojekt, in dem u.a. verschiedene Fachhochschulen mitwirken. Hat sich das frühere Konkurrenzverhältnis verändert?
Stefan Schnurr: Ich erlebe das so. Für mich war die Vorbereitung des Innovation Boosters ein tolles Beispiel von Kooperation, jenseits jeglicher Konkurrenzideen. Es ist vielleicht ein Zeichen für eine neue Kultur der Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen. Es gibt zunehmend Projekte, die Sprachregionen übergreifend sind und an denen sich mehrere Hochschulen in mehreren Landesteilen beteiligen. Die Zusammenarbeit läuft sehr effizient, sehr pragmatisch. Das ist spannend. Es ist fast etwas wie ein internationales Projekt im eigenen Land.
Anne Parpan-Blaser: (Lacht) Das ist eine gute Beschreibung, auch wegen der Mehrsprachigkeit. Das Verbindende ist das Bewusstsein, dass man das nur zusammen schaffen kann.
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Prof. Dr. Anne Parpan-Blaser
Dozentin, Institut Integration und Partizipation, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
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Prof. Dr. Stefan Schnurr
Dozent, Institut Kinder- und Jugendhilfe, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
Autor*in
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Martin Heiniger
Fachredaktion Sozialinfo
E-Mail: martin.heiniger@sozialinfo.ch
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Martin Heiniger
Hinter dem etwas sperrigen Namen «NTN Innovation Booster 'Co-Designing Human Services'» steckt eine Initiative mit dem Potenzial, das Gesicht des Schweizerischen Sozial- und Gesundheitswesens nachhaltig zu verändern.
Dem «Schweizerischen Verein zur Förderung der sozialen Innovation» ist es mit diesem Projekt gelungen, einen Teil öffentlicher Fördergelder, die sonst zumeist für Innovationen in der Wirtschaft Verwendung finden, dem Sozial- und Gesundheitsbereich zugänglich zu machen.
Was konkret hinter diesem Innovation Booster steckt, und wie sich Adressat*innen sozialer Dienstleistungen, aber auch Sie als Fachpersonen aktiv beteiligen können, erfahren Sie in unserem aktuellen Dossier.