Digital und analog im Mix – neue Potenziale in der Beratung
Immer mehr Handlungsfelder der Sozialen Arbeit sammeln Erfahrungen mit Blended Counseling. Ob in der Suchtberatung, der Mütter- und Väterberatung oder der betrieblichen Sozialberatung: die Potenziale sind vielfältig und Klient*innen können profitieren, wie Forschung und Praxiserfahrungen zeigen.
Mittlerweile haben verschiedene beraterische Handlungsfelder der Sozialen Arbeit Erfahrungen mit Blended Counseling gesammelt. Potenziale für eine Nutzung von digitalen Medien in der Beratung in Kombination mit der bewährten Face-to-Face-Beratung waren bereits 2014/2015 in einer Vorstudie mit Fachkräften aus der Schulsozialarbeit, einem Sozialdienst sowie einer Sucht- und Jugendberatungsstelle identifiziert worden.1 Es lohnt sich also, einen Blick auf die Ergebnisse, auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ausgewählten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit zu werfen.
Blended Counseling
Blended Counseling umfasst die „systematische, konzeptionell fundierte, passgenaue Kombination verschiedener digitaler und analoger Kommunikationskanäle in der Beratung“. D.h. im Beratungsprozess werden gezielt die jeweiligen Vorteile der kommunikativen Settings miteinander verknüpft.6
Unter kommunikativen Settings werden Mail-, Chat-, Messenger-, Telefon- und Videokommunikation sowie die kopräsente Face-to-Face-Kommunikation verstanden. In jedem kommunikativen Setting können verschiedene Tools angewendet werden, z.B. ELVI oder Threema Video für die Videokommunikation.
Die Vorreiter*innen: Blended Counseling in der Suchtberatung
Im Feld der Suchtberatung finden sich zahlreiche Anwendungsbeispiele für Blended Counseling. Diese Bandbreite wurde aktuell auf dem Symposium «Online-Beratung, Blended Counseling, digitale Selbsthilfe» am 16. Mai 2022 in Bern deutlich.
Nach dem ersten Entwicklungsprojekt zu Blended Counseling in der Suchtberatung2 in den Jahren 2017/2018, an dem Suchtfachstellen aus dem Kanton Bern und aus Zürich beteiligt waren, trieb insbesondere das nationale Suchtberatungsportal SafeZone (Infodrog) die Entwicklung voran: so stellte SafeZone den beteiligten Suchtfachstellen in Zeiten der Pandemie datenschutzkonforme Möglichkeiten für ihre Klient*innenkontakte zur Verfügung. Im Zuge eines Relaunches im Sommer 2020, wurden neue Wege der Verknüpfung von digitaler Beratung auf dem Portal SafeZone entwickelt.3 So gibt es nun neben der klassischen Mailberatung auch die Möglichkeit, per Video und per Chat zu beraten, bzw. diese Möglichkeiten gezielt miteinander zu verknüpfen.
Mütter- und Väterberatung: Video und Sprachnachrichten vervielfältigen die Möglichkeiten
Im Jahr 2020/2021 erprobte eine Gruppe von Mütter- und Väterberaterinnen in Zürich die vielfältigen Möglichkeiten der gezielten Kombination verschiedener kommunikativer Settings im Blended Counseling. Dabei wurden die datenschutzkonformen Videotools ELVI für längere Beratungsgespräche und Threema-Video für Kurzberatungen sowie der Messenger Threema in den Beratungsprozess einbezogen. Die Erprobung wurde von einem Team der HSA FHNW begleitend evaluiert.4 Dabei zeigte sich, dass die Beraterinnen digitale Tools dann verstärkt einsetzten, wenn sie sich selbst im Umgang damit sicher fühlten. Ein weiteres Ergebnis war die Einschätzung der Beraterinnen, Stimmungen und Bedürfnisse der Klient*innen auch im Videosetting gut wahrnehmen und darauf reagieren zu können. Der Messenger wurde insbesondere für kurze, abgegrenzte Fachfragen genutzt und dann, wenn die Übermittlung von Dokumenten oder Fotos die Beratung unterstützte. Überraschend war für die Beraterinnen die Erkenntnis, dass insbesondere Menschen mit eher geringer Schriftsprachkompetenz im Beratungsprozess auch Sprachnachrichten nutzten und damit direkt an vertraute Alltagskompetenzen anknüpfen konnten.
Räumliche und zeitliche Flexibilisierung der Beratung
Gerade für Berater*innen, die für ein grosses regionales Einzugsgebiet zuständig sind, bietet Blended Counseling neue Möglichkeiten: die räumliche Flexibilisierung verringert den Aufwand für alle Beteiligten enorm, da die Anfahrtswege entfallen. Die zeitliche Flexibilisierung ist dann möglich, wenn im Beratungsprozess auf asynchrone – also zeitversetzte – kommunikative Settings zurückgegriffen werden kann. Dann kann beispielsweise die Klientin oder der Klient abends etwas deponieren, in dem sie*er ihr Anliegen schriftlich übermittelt und die/der Berater*in kann am folgenden Tag darauf antworten. Dies ist etwa für die betriebliche Sozialberatung von grossen Unternehmen ein starkes Argument für Blended Counseling.
Impactfaktoren
Wichtig ist es zudem, Nutzungsmotive, Ziele und erhoffte Wirkungen des Blended Counseling in die konzeptionellen Überlegungen einzubinden. Welche Klient*innen könnten von einem derart gestalteten Beratungsprozess profitieren, welche weniger? Mittlerweile wurden sowohl feldspezifische als auch übergreifende Impactfaktoren identifiziert: so fokussiert Blended Counseling in der Suchtberatung unter anderem auf die Stabilisierung der Beratungsbeziehung, um dadurch gezielt Kontaktabbrüchen vorzubeugen. In der Mütter-Väterberatung stand hingegen die Flexibilisierung von Beratung und Begleitung in langjährigen Prozessen im Fokus: die «digital unterstützte Pause» sollte in Phasen mit weniger Beratungsbedarf niederschwellige Kontaktmöglichkeiten schaffen und ein «In-Kontakt-Bleiben» unterstützen.
«Das mache ich doch bereits…»
Teilweise haben Fachpersonen den Eindruck, sie würden bereits Blended Counseling anwenden, wenn sie im Beratungsprozess mit Klient*innen auch telefonieren oder mailen. Hier gilt es klarzustellen, dass Blended Counseling mehr ist, als die situative und/oder zufällige Nutzung verschiedener Settings im Beratungsprozess. Dahinter steckt vielmehr die Idee, dass jedes kommunikative Setting spezifische Vor- und Nachteile besitzt (vgl. Box «Blended Counseling»). Wenn es gelingt, die jeweiligen Vorteile gezielt miteinander zu verknüpfen, so kann die Beratung dadurch lebensweltorientierter und zielführender gestaltet werden.
Welche Kompetenzen notwendig sind, um Blended Counseling klient*innenbezogen anwenden zu können, wurde wurde von einem Team der HSA FHNW in einem ersten Modellentwurf für eine «Medienkompetenz Blended Counseling» skizziert.5 Mittlerweile gibt es Weiterbildungen, die neben Methoden für Distanzberatung auch gezielt Kompetenzen für Blended Counseling vermitteln. Dies gilt es zu nutzen, damit Beratung in der Sozialen Arbeit denselben hohen Standards folgt, egal ob sie digital, analog oder in einem Blended-Prozess stattfindet.
Forschung und Weiterbildung zu Blended Counseling sind notwendig
Erfreulicherweise laufen derzeit weitere Projekte, die Blended Counseling für neue Handlungsfelder konzeptionell entwickeln. Dies sind die Schwangerenberatung, die Beratung von älteren Menschen, von Menschen mit Beeinträchtigungen, und beim Blick über die Landesgrenzen auch die Erziehungsberatung und die Jugendberatung. Je mehr Wissen wir generieren und je spezifischer Blended Counseling konzipiert wird, umso besser können wir digitale Teilhabe für die Adressat*innen der Sozialen Arbeit gewährleisten und einen digitalen Gap vermeiden.
MARTINA HÖRMANN, PROF. DR.
Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW, Olten
Dozentin, Leitung Arbeitsschwerpunkt Blended Counseling / Digitale Beratung (www.blended-counseling.ch), Leitung MAS Systemisch-lösungsorientierte Kurzzeitberatung und -therapie (www.systemisch-lösungsorientiert-beraten.ch), Leitung des CAS Beratung Digital.
Bachmann, A. /Hunkeler, B. (2021). Online-Beratung und Blended Counseling erweitern den Zugang zu Beratungsangeboten. In: Suchtmagazin. Jg. 47, Heft 6, S. 22-26.
Camenzind, G./Hörmann, M./Silfverberg M. (in Vorb.). Medienkompetenz Blended Counseling. Tübingen: DGVT-Verlag.
Camenzind, G./Hörmann, M./Tschopp, D. (2021). Medienkompetenz als Basisvariable für Blended Counseling: Ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt in der Mütter- und Väterberatung. Forschungsbericht. Olten.
Camenzind, G./Hörmann, M. (2021). Systemisch, flexibel und nahe an der Lebenswelt – Blended Counseling. In: ausgesucht.bs. Magazin des Gesundheitsdepartements Basel Stadt.
November 2021, S. 10-14.
Hörmann, M. (2020). Digital unterwegs im Möglichkeitsraum. In: Vogt, M. (Hg.). Einfach kurz und gut 2.0. Lösungsfokussierte Kurzzeittherapie in Theorie und Praxis. S. 119-127. Dortmund: Verlag Modernes Lernen.
Hörmann, M./Aeberhardt, D./Flammer, P./Tanner, A./Tschopp, D./Wenzel, J. (2019). Face-to-Face und mehr – neue Modelle für Mediennutzung in der Beratung. Schlussbericht zum Projekt. Olten: FHNW.
Hörmann, M./Engelhardt, E. (2022). Blended Counseling – Grundlagen, Aktuelles und Diskurslinien. In: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, H. 2/2022. S. 72-77.
Hörmann, M./Flammer, P./Tanner, A./Tschopp, D./Aeberhardt, D. (2018). Blended Counseling in der Suchtberatung. In: Suchtmagazin 6/2018, 44. Jg. Dezember 2018, S. 21 – 26.
Hörmann, M./Schenker, D. (2016). Hörmann, M. / Schenker, D. (2016). Blended Counseling in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. In: Soziale Innovation. Forschung und Entwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW 2016, S. 36-40.
1 Hörmann 2018, Flammer/Hörmann 2018, Hörmann/Schenker 2016
2 vgl. Hörmann et al. 2019
3 vgl. Bachmann/Hunkeler 2021
4 vgl. Camenzind et al. 2021
5 Camenzind/Hörmann/Tschopp 2021, Camenzind/Hörmann/Silfverberg in Vorb. 2022
6 vgl. Hörmann et al. 2019, S. 23, Hörmann 2020, S. 143
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